Historische Aufarbeitung Wie die evangelische Kirche den NS-Staat unterstützte

"Häftlingskarten" in der Hauptausstellung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.

Dass die evangelische Kirche den nationalsozialistischen Staat bei seiner Entrechtung, Verfolgung und Deportation von Juden unterstützt hat, ist bekannt. „Aber die Dimension, dass die Kirche an einer zentralen Stelle geholfen hat, ist im kulturellen Gedächtnis noch nicht sehr breit angekommen“, sagt Hansjörg Buss. Er ist Historiker und forscht seit den 2000er-Jahren über die Aufarbeitung des Verhaltens der Kirche in der NS-Zeit.

Im Auftrag des Kirchengemeindeverbandes Altona recherchiert er seit Anfang 2020 zu der von der damaligen Kirchenverwaltung geführten sogenannten „Judenkartei“. Dabei handelt es sich um Namensverzeichnisse, mit denen die Propstei Altona den Nationalsozialisten aktiv behilflich war, Christen mit jüdischen Wurzeln zu identifizieren.

Über erste Erkenntnisse seiner Recherche wird Buss am Mittwoch, 28. Oktober 2020 um 16 Uhr am Gedenkstein am Paul-Nevermann-Platz hinter dem Altonaer Bahnhof reden. Anlass ist das seit 2002 jährliche Gedenken an die Opfer der „Polenaktion“. Auch Propst Thomas Drope wird dort an die Entrechtung, Verfolgung und Deportation jüdischer Christen aus Altona erinnern. Vor 82 Jahren, am 28. Oktober 1938, wurden mehrere hundert jüdische Frauen, Männer und Kinder mit polnischer Staatsangehörigkeit aus Hamburg nach Polen ausgewiesen.

 

Der historische Hintergrund der „Judenkartei“

Nach den sogenannten „Nürnberger Rassegesetzen“ vom September 1935 bestimmten die Nationalsozialisten Juden nicht mehr über ihre Religionszugehörigkeit, sondern über die Begriffe der „Rasse“ und des „Blutes“. „Bis es das staatliche Melderegister gab, wurden entsprechende Daten in den Kirchenbüchern niedergeschrieben“, sagt Buss. Mithilfe der Einträge ließ sich zurückverfolgen, welche Menschen bzw. ihre Eltern oder Großeltern sich vom Judentum gelöst hatten und zu einer christlichen Kirche konvertiert waren. Und die evangelische Kirche gab diese Daten weiter. „In ihrer Gesamtheit leistete die evangelische Kirche damit in einer für den NS-Staat zentralen Angelegenheit bereitwillige Amtshilfe“, sagt Buss.

Die Propstei Altona eröffnete am 15. Oktober 1935 in der heutigen Billrothstraße eine sogenannte Sippenkanzlei. Zeitweise fünf Hauptamtliche arbeiteten staatlichen Stellen und Dienststellen der NSDAP zu, indem sie Namenslisten aus einer sogenannten „Judenkartei“ weitergaben. Im Kirchenkreisarchiv überliefert sind insgesamt vier Namenslisten mit in Altonaer Kirchen getauften Juden bzw. deren Nachkommen der Jahre 1800 bis 1936. Auf ihnen befinden sich insgesamt 548 Namen, wobei die tatsächliche Zahl höher lag. Mindestens acht von ihnen fielen der Shoa zum Opfer, andere erlitten Unrecht und erfuhren Schmerz und Leid, die sie ihr Leben lang begleiteten. 

Am 16. November wird Dr. Hansjörg Buss die ersten Ergebnisse seiner Forschung, die er im Auftrag des Kirchengemeindeverbandes durchführt, in der Lutherkirche der Gemeinde Hamburg-Bahrenfeld präsentieren. Sprechen wird dort auch Dr. Stephan Linck, Studienleiter für Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit der Evangelischen Akademie der Nordkirche; moderieren wird Pastorin Hanna Lehming, Referentin für christlich-jüdischen Dialog der Nordkirche.

 

Weitere Veranstaltungen zum Gedenken an die Pogrome

Neben dem Gedenken am 28. Oktober gibt es weitere Veranstaltungen in der Verheißungskirche der Gemeinde Niendorf, am KZ-Gedenkstein in Wedel, in der Lutherkirche in Hamburg-Bahrenfeld und in der Hauptkirche St. Petri* mit Rednern aus Judentums, Islam und Christentum. Anlass ist das Gedenken an die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938.

Am 23. November liest Autor Jürgen Gückel im Mahnmal St. Nikolai aus seinem Buch „Klassenfoto mit Massenmörder“ vor. Darin schreibt er über die Beteiligung des Theologen und SS-Angehörigen Artur Wilke an Massenmorden in Malyj Trostenez, denen viele der nach Minsk deportierten jüdischen Hamburger zum Opfer fielen.


*Diese Veranstaltung ist, bedingt durch die Corona-Pandemie, nur mit einer begrenzten Teilnehmerzahl möglich und daher leider nicht öffentlich. Alle Gäste sind zuvor eingeladen worden.