Trauma nach der Flucht „Ich fühle mich nirgendwo mehr sicher“

Christina Ellinghaus mit Nadja, die seit ihrer Flucht aus der Ukraine unter starker Angst leidet.

Die Erinnerungen an den Krieg kommen plötzlich: Meistens nachts, manchmal, wenn sie mit anderen Ukrainerinnen über das Erlebte spricht. Dann fühlt Nadja wieder die panische Angst, genau wie an diesem Tag Mitte März, als sie ganz plötzlich zusammen mit ihrem Sohn vor dem Krieg aus Kiew fliehen musste.

Nadja fühlt sich nicht mehr sicher, auch nicht in Deutschland. Denn die Gewissheit, ihr Leben unter Kontrolle zu haben, sich selbst helfen zu können, hat sich mit dem Fall der Bomben auf ihre Heimatstadt in Luft aufgelöst. „Ich fühle mich nirgendwo mehr sicher“, sagt die 40-jährige Ukrainerin.

Vor wenigen Tagen saß Nadja zum ersten Mal in einem Büro der Diakonie einer Psychologin  gegenüber. Auf Anfrage war sie zum Erstgespräch der Psychosozialen Beratung für Flüchtlinge (PSB Flucht) der Diakonie in Hamburg geladen worden. Menschen wie Nadja bekommen hier Hilfe. Hier können sie über ihre Ängste sprechen, ihre seelischen Verletzungen, die sie auf der Flucht erleiden mussten – durch Krieg, Gewalt, Hunger, lebensbedrohliche Umstände, die sie zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen haben.

 

Gespräche in geschütztem Raum

„In erster Linie geht es darum, den Menschen einen sicheren Raum zu geben, um sie über ihre Symptome sprechen zu lassen“, sagt Christina Ellinghaus. Die ausgebildete Psychologin und Traumatherapeutin leitet die Psychosoziale Beratung der Diakonie.

Angst bis hin zu Panik, Albträume, Depressionen, manchmal auch Suchterkrankungen: Die Symptome, mit denen die Geflüchteten bei der Diakonie anrufen, sind vielfältig. Allesamt sind sie eine Reaktion des Körpers und der Psyche auf traumatische Ereignisse, die sie durchleben mussten, ohne sie verarbeiten zu können. „Es sind normale Reaktion, auf sehr unnormale Extremsituationen“, sagt Ellinghaus. Viele Betroffene erleben das Erlebte immer wieder. Sie fühlen dasselbe, riechen, hören und sehen das Gleiche wie in den traumatischen Situationen.

 

Zusammen mit 13-jährigem Sohn geflüchtet

Auch Nadja konnte den plötzlichen und unerwarteten Kriegsbeginn nicht verarbeiten. Sie ist eine toughe aufgeschlossene Frau. In ihrem Stuhl sitzt sie kerzengerade, begrüßt alle Menschen auf Englisch. Sie hat ihren 13-jährigen Sohn mit nach Deutschland gebracht. Das Taschentuch, das sie in den Händen hält, benutzt sie kaum, faltet es stattdessen beim Gespräch ineinander. Sie erzählt von ihrer Privatunterkunft, der Unterstützung, die sie im Alltag erfährt. Nadja wirkt aufgeräumt, klar in dem, was sie erzählt.

Doch seit Mitte März, dem Tag der Flucht aus Kiew, bestimmt die Angst ihren Alltag. Sie kommt an die Oberfläche, wenn sie von der Flucht erzählt. „Wir waren in einem Sommerhaus in der Nähe von Kiew untergekommen, alle 40 Minuten mussten wir in den Keller laufen, um uns zu schützen. Die Kinder haben geweint. Niemand konnte schlafen.“ Bis heute sind Nadjas Nächte unterbrochen von langen Wachphasen.

Am Tag der Flucht dann musste alles ganz schnell gehen. „Eine Freundin rief uns an und sagte, entweder ihr geht jetzt oder nie. Aber ich wollte nicht. Selbst an der Grenze habe ich noch gedacht, ich kann wieder zurück in mein Zuhause“, sagt Nadja, jetzt mit Tränen in den Augen.  Dass sie ihren Ehemann in Kiew zurücklassen musste, macht die Erinnerung umso schmerzhafter. Mit ihm telefoniert sie jeden Tag. Auch mit Freundinnen, die noch in der Ukraine sind, tauscht sie sich aus. „Wenn dann im Hintergrund Sirenen zu hören sind, bekomme ich große Angst.“

 

Trauma zeigt sich in unterschiedlichen Symptomen

Nadja zeigt Symptome einer sogenannten Traumafolgeerkrankung. Die Familie, in der sie in Hamburg untergekommen ist, hat den Kontakt zur Beratungsstelle der Diakonie hergestellt. Nach einem Erstgespräch folgen weitere psychologische Gespräche, in denen auch Fragen rund um die Organisation des Alltags zur Sprache kommen können. „Wir helfen den Menschen, ein Verständnis für ihre psychischen und körperlichen Beschwerden zu entwickeln und eigene Fähigkeiten und Ressourcen zu aktivieren“, sagt Ellinghaus. Entspannungsübungen, Aktivitäten, die Spaß machen und die vielleicht schon einmal durch eine Krise geholfen haben: Es geht darum, die Menschen zu stabilisieren und sie so gut es geht ins Hier und Jetzt zurückzuholen. Schritt für Schritt.

Seit die Diakonie die Psychosoziale Beratung im Jahre 2016 im Flüchtlingssommer geschaffen hat, ist der Bedarf nach Beratung sehr groß. Der Anteil der Ukrainer*innen sei nach wie vor gering im Vergleich zum Anteil der Menschen aus Afghanistan, Syrien, Iran, Irak oder Eritrea, berichtet Ellinghaus.

 

Lange Wartelisten bei allen Beratungsstellen

Die Beratung der Diakonie ist in Hamburg nicht die einzige Einrichtung, die Geflüchtete psychosozial oder psychotherapeutisch betreut. Centra, Segemi, Haveno und Lichtpunkt e.V. gehören auch dazu. Allen gemein sind lange Wartelisten. „Wir hoffen, dass mehr Mittel und Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, damit sich die bestehenden Stellen vergrößern können“, sagt Ellinghaus.

Nadja steht ebenfalls auf der Warteliste. Sie spricht nicht häufig über ihre Erinnerungen an den Krieg und die Flucht. Im Gegenteil, sie vermeidet Gespräche über das Erlebte unter Ukrainer*innen. „Ich muss ja funktionieren“, sagt sie. Schließlich ist sie Mutter. Und ihr Sohn leidet ebenfalls unter starken Ängsten.  „Jeden Morgen, wenn er wach wird, fragt er, ob er noch im Krieg ist.“ Auch Nadja Sohn wird bald in der Diakonie Hilfe bekommen. Ein Erstgespräch ist bereits vereinbart. Eine regelmäßige psychologische Begleitung kann dann beginnen. Sobald die Kapazitäten es zulassen.


PSB Flucht - Psychosoziale Beratung für Flüchtlinge der Diakonie
Anmeldung für Erstgespräche und weitere Angebote

Telefon-Sprechzeiten
Montags 10 bis 12 Uhr
Mittwochs 10 bis 12 Uhr
Verwaltung: +49 (0)40 30620 361
psb-flucht@diakonie-hamburg.de

Für die Beratung stehen Dolmetscher*innen zur Verfügung.


Weitere Stellen:

Centra, Segemi, Haveno und Lichtpunkt e.V


UKE Flüchtlingsambulanz für Kinder und Jugendliche
Beratung zu psychologischer Hilfe für Kinder, Eltern, Unterstützer*innen
Dienstags 10 bis 11 Uhr
Donnerstags 14 bis 15 Uhr
+49 (0)152 228 15335
fluechtlingsambulanz@uke.de

 

Telefonische Sprechstunde für Ukrainer*innen
Psychosoziale Beratung und Gespräche nach Bedarf
2. Juni und 16. Juni: 15.30 bis 17 Uhr (nach Bedarf wird das Angebot fortgesetzt)
+49 (0)431-70559493. Eine Dolmetscherin für Ukrainisch ist während des Telefonats anwesend.