Kirsten Fehrs zur Nacht der Kirchen „Da erzähle mir niemand, dass Religion keine Kraft mehr hätte!“


Am Samstag, 21. September, ist es wieder soweit: Die Kirchengemeinden Hamburgs öffnen zum nunmehr 21. Mal ihre Tore für die Menschen der Stadt. Auch dieses Jahr wird Bischöfin Kirsten Fehrs wieder bei der feierlichen Eröffnung dabei sein.

Im Interview sprachen wir mit der kommissarischen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland darüber, was die Nacht der Kirchen in Hamburg für sie persönlich so besonders macht – und warum das Motto „Was glaubst du denn“ und die Veranstaltung selbst in der aktuellen Zeit so wichtig sind. 

Christian Schierwagen: Frau Fehrs, was ist Ihrer Meinung nach das Besondere an der Nacht der Kirchen? 

Bischöfin Kirsten Fehrs: Die Vielfalt. Auf der einen Seite die ökumenische Vielfalt, die sich bei dieser Veranstaltung besonders deutlich zeigt, und auf der anderen Seite das kulturell vielfältige Angebot, das sich durch die ganze Nacht zieht und so viele unterschiedliche Menschen anspricht. Besonders ist für mich darüber hinaus zu merken, wie bewegt die Leute sind, vor allem emotional. 

Die Nacht der Kirchen ist eine sagenhafte Chance, kirchliches Leben und all das, was in Kirche passiert, für sehr viele Menschen an einem Abend erlebbar zu machen. Ich durfte schon als Pröpstin die Anfänge der Nacht der Kirchen begleiten. Damals war ich noch Hauptpastorin in St. Jacobi, und es war wundervoll, so vielen interessierten Menschen zu begegnen, sie eine ganze Nacht lang mit Kirchenführungen an geheimen Orten zu faszinieren, Mozartcocktails zu kreieren, alle Arten von Musik nicht nur zu hören, sondern zu erleben… Sie müssen sich vorstellen: Unser Kirchenmusiker hat damals ganze Opern aufgeführt – ein Abend lang nur italienische Opern mit einem Kirchenchor! 

Mal etwas Neues ausprobieren, sich auf Neuland begeben, Gemeinschaft, auch Nachdenklichkeit – all das ist für mich die Nacht der Kirchen. Sie merken, dass ich eine gewisse Begeisterung für dieses Thema nicht verbergen kann (lacht). 

Schierwagen: Das ist verständlich, schließlich ist die Nacht der Kirchen in Hamburg auch eine Chance, Kirche von einer anderen Seite zu erleben bzw. auch zu bemerken, was sie gesellschaftlich bietet – das ist nicht allen Leuten klar. 

Fehrs: Die Nacht der Kirchen ist letztlich das, was wir als evangelische Kirche grundsätzlich vermitteln wollen: Sie ist gemeinschaftsstiftend. In einer Zeit, wo die gesellschaftliche Polarisierung zunimmt, werden Orte, an denen sich die unterschiedlichsten Menschen gemeinsam freuen, miteinander ins Gespräch kommen oder nachdenken können, mehr denn je gebraucht. Das muss nicht einmal über das Wort passieren; ich kann auch mit jemandem gemeinsam über Kabarett lachen und bin darüber ganz stark mit anderen verbunden. 

Bei der Nacht der Kirchen ist die besondere Botschaft des Evangeliums stets präsent – ganz gleich, welches Motto gerade aktuell ist. Und diese Botschaft heißt: Segen, Freiheit, Hoffnung. Hier können wir als Kirche einen eigenen Akzent setzen und uns von einer reinen Kulturveranstaltung auch ein stückweit abheben. 

Schierwagen: Was sind Ihre Gedanken zum diesjährigen Motto „Was glaubst du denn“? 

Fehrs: Die Nuancen, in denen man das Motto aussprechen kann, finde ich sehr wichtig. Beispielsweise kann es eine Distanzierung meinen: „Was glaubst du denn?“ Ich persönlich höre da immer die Frage heraus: „Was glaubst du eigentlich noch?“ 

Im Kontext von Kirche ist oftmals zu vernehmen, dass immer mehr Menschen austreten würden, niemand mehr so richtig dazugehören wolle, dass Kirche in der Krise sei. Und spannenderweise merke ich genau die andere Seite: Dass das Bedürfnis nach Halt, Orientierung, Trost und Ritualen, die die Ängste binden, immer größer wird, weil bei vielen Menschen – gerade bei jungen – das Gefühl vorherrscht, dass alle gedachten Sicherheiten Stück für Stück weg- oder zumindest einbrechen. Viele verbinden mit Kirche zunächst vor allem eine behäbige Institution, etwas Behördliches, aber gerade dieser Aspekt von Kirche – eine Gemeinschaft, in der wir einander tragen können – der trifft eine ganz große Sehnsucht der Menschen. 

Insofern finde ich das Motto sehr gut, weil es genau an dieser Stelle nachdenklich macht: Es geht weniger um ein Glaubensbekenntnis, dass jeder Mensch genauso nachsprechen müsse, sondern vielmehr um die Freiheit des Christenmenschen, dass das, was ich glaube, auch etwas ist, was ich individuell finden kann. 

Schierwagen: „Glauben“ heißt letztlich ja auch „zweifeln“, also „nicht wissen“. Darin kann aber auch etwas Bestärkendes sein. Und wie ich glaube, das ist ganz individuell, und grundsätzlich ist es doch etwas Schönes, wenn diese Individualität ermöglicht wird. Allerdings kann dieser Blick ins Innere auch zur Isolation führen. Was sind hierzu Ihre Gedanken? 

Fehrs: In Zusammenhang mit der Aktion „Was glauben wir eigentlich?“ der Evangelischen Akademie gab es 2011 eine Straßenumfrage, und fast jede dritte Person antwortete auf die Frage, woran sie eigentlich glaube: „Ich glaube an mich selbst.“ Das hat mich verstört, weil es ausdrückt, dass alles, was in meinem Leben passiert, durch mich selbst errungen werden und gesteuert stattfinden könne, dass ich selbst alles in der Hand hätte. Und dass ich deshalb auch meine, alles „immer im Griff“ haben zu müssen. 

Die Perspektive, dass das Leben ein Geschenk ist, dass es ein Geschenk ist, in einem freien Land zu leben, die eigene Religion frei wählen zu können, in einem Sozialstaat zu leben, in dem ganz viele dafür mitsorgen, dass es mir gut gehen kann, diese Perspektive hatten viele Menschen gar nicht im Blick – das ist ein Ausdruck einer sehr individualisierten Gesellschaft. Hierbei gibt es Ausschläge, die ich beängstigend und bedrohlich empfinde, nämlich die Ansicht: „Die einzige Freiheit, die zählt, ist meine eigene. Deine ist mir herzlich egal.“ 

In diesem Zusammenhang ist es so wichtig, deutlich zu machen, dass wir Angewiesene sind. Wenn schon nicht angewiesen auf Gott, dann mindestens auf andere Menschen. Gerade in den Phasen des Lebens, in denen man an die eigenen Grenzen gerät, wird man niemals ohne die Hilfe anderer, ohne einen oder eine Nächste existieren können. Der Aspekt von Gott gesegnet und damit zugehörig zu sein, ist eine tröstliche und in diesen Tagen auch orientierende Botschaft. 

Schierwagen: Worauf freuen Sie sich am meisten bei der Nacht der Kirchen? 

Fehrs: Es gibt für mich jedes Jahr einen Höhepunkt, und der wird von Jahr zu Jahr intensiver. Schon die feierliche Eröffnung gibt mir nach all den Jahren ein wunderbares Gefühl der Vertrautheit. Der Gospelchor singt, der Bürgermeister sagt einige freundliche und kluge Worte, und wir beten mitten in der Einkaufsstraße in ökumenischer, bunter Gemeinschaft zusammen auf der Bühne. Da gibt es so viele kleine Momente, die eine tolle Atmosphäre schaffen, ähnlich wie beim Kirchentag. Und dann kommt das Besondere: Wir verteilen an der Hauptbühne Segensbänder – und inzwischen komme ich dort unter eineinhalb Stunden gar nicht mehr weg. So viele Menschen wünschen sich dieses Band. Es gibt mittlerweile schon so etwas wie „Stammkund*innen“. Da sind einige dabei, die mir sagen, dass sie inzwischen schon fünf- oder gar zehnmal von mir ein Segensband bekommen haben – ich finde es jedes Mal berührend zu hören, wieviel Kraft dies den Menschen gibt. 

In dem Moment, in dem ich ihnen dieses Band um das Handgelenk knüpfe, schaue ich ihnen ins Gesicht. Und dann merke ich einfach, ob da Schmerz in den Augen ist oder Freude, Verzweiflung, Liebe oder Not. 

Ich hatte einmal zwei geflüchtete Kinder vor mir, das war 2015, das weiß ich noch genau, weil es mich so berührt hat. Die beiden haben jeweils übersetzt, welches Segenswort ich für den anderen gesprochen habe, denn der eine sprach nur ein bisschen Deutsch und der andere nur ein bisschen Englisch. In diesen und den vielen anderen Momenten spüre ich die „Segenssehnsucht“, die die Menschen bewegt. Diese Suche nach Geborgenheit in einer immer ungastlicheren Welt. So vieles spielt sich in diesen wenigen Sekunden dort ab. Da erzähle mir niemand, dass Religion keine Kraft mehr hätte! 

Christian: Vielen Dank für das Interview!

Bischöfin Kirsten Fehrs ist bei der offiziellen Eröffnung der 21. Nacht der Kirchen auf der NDR-Hauptbühne zu treffen in der Spitaler Straße - Am Mönckebergbrunnen, 20095 Hamburg. Weitere Veranstaltungen zur Nacht der Kirchen 2024 in Hamburg finden Sie auf der Webseite und in der App.