Flüchtlingssommer 2015 Von rührenden Bildern und zunehmender Normalität

Im Sommer 2015 breitete sich eine Kultur des Willkommenheißens und der Solidarität in Deutschland aus.

Der Sommer 2015 ist in die Geschichte eingegangen: In den ersten Septembertagen kamen zehntausende Flüchtlinge über die Balkan-Route nach Deutschland. Dietlind Jochims, Flüchtlingsbeauftragte der evangelischen Kirche in Norddeutschland, blickt für uns zurück, ins Jetzt und nach vorn.

Welche Bilder aus dem Sommer 2015 waren für Sie die prägendsten?
Dietlind Jochims: Neben den medialen Bildern war für mich bleibend eindrücklich das Miterleben der Transitflüchtlinge und der ehrenamtlichen Hilfsstruktur am Hamburger Hauptbahnhof. Empfang, Versorgung, erste medizinische Hilfe, Ticketkauf für die Weiterreise – alles war zivilgesellschaftlich und ehrenamtlich organisiert. Kirchen, Moscheen, Kulturbetriebe haben improvisiert und über viele Wochen ihre Räume in temporäre Schlafstätten verwandelt. Viele Hamburger*innen mit Migrationshintergrund, etliche selbst noch nicht lange hier, haben gedolmetscht und vermittelt. Die schlafenden Menschen in unserer Kapelle im Ökumenischen Forum, die dicht an dicht auf den Luftmatratzen lagen, dieses Bild rührt mich immer noch sehr an.

„Wir schaffen das“ – diese drei Worte der Kanzlerin sind berühmt geworden: Wie haben Sie diese Worte und die damit verbundene Rede damals aufgefasst?
Als unmittelbar richtig und einleuchtend: Die sehr brisante Situation in Ungarn drohte zu eskalieren. Und die Kanzlerin hat sich orientiert an Menschenwürde und Grundgesetz, sie hat erinnert an humanitäre Werte, an unseren Reichtum, und sie hat appelliert an unsere europäische Verantwortung. Die Essenz dieser Rede sollten wir jedes Jahr wieder anhören.

Und neben „Wir schaffen das“ gilt das besonders auch für einen weiteren Satz aus der Rede: „Es gibt keine Toleranz gegenüber denen, die die Würde anderer Menschen infrage stellen.“

Wer ist „wir“? Und was ist „das“? Stimmt das, was die Kanzlerin meinte, mit Ihrer Ansicht überein?
Das kann ich für die Kanzlerin nicht wirklich sagen. Im Handeln ihrer Regierung, in der Gesetzgebung hat sich seit 2015 vieles so entwickelt, dass von „Wir schaffen das“ oder „Wir wollen das schaffen“ nicht mehr allzu viel zu spüren ist.

Für mich sind kurz gesagt „wir“ alle, die an einem guten Zusammenleben Interesse haben und mitwirken. Und „das“ ist eben dieses gute Zusammenleben: partizipativ, respektvoll, neugierig, Anteil nehmend, konfliktfähig....

Sehr viele Menschen fingen damals an, sich in der Flüchtlingshilfe zu engagieren, auch in Hamburg, man denke nur an die große Kleiderspendenaktion in den Messehallen. Wie ist das Engagement angesichts dieser damaligen Solidaritätsbewegung heute Ihrer Ansicht nach?
2015 hat die Zivilgesellschaft viele staatliche Aufgaben wie Unterbringung oder Versorgung übernommen, bis die staatlichen Stellen ausreichend organisiert waren. Das ist heute nicht mehr so. Kritische bis blatant rassistische Töne sind lauter geworden. Aber immer noch sind viele Menschen engagiert. Leider ist es aber inzwischen so, dass staatliche Strukturen manches Engagement erschweren statt fördern. Ein Beispiel: Die Unterbringung in so genannten Ankerzentren und ähnlichen Einrichtungen macht Begegnungen, Kennenlernen und Kontakt gewollt schwer.

Man hat den Eindruck, es ist still um das Thema Flüchtlinge geworden. Ist das auch Ihr Eindruck? Woran liegt das?
Positiv gedacht: Vielleicht ist das ein Zeichen zunehmender Normalität. Viele der 2015 Angekommenen gehören inzwischen selbstverständlich dazu. Sie sind nicht mehr ausschließlich Geflüchtete, sondern Nachbarn, Freunde, Kolleginnen. Von diesen Geschichten könnten wir viel mehr erzählen. Und auch hier gilt: Wenn Themen aus unserem Bewusstsein gedrängt werden, Flüchtlinge durch Deals aus Europa ferngehalten oder in griechischen Hotspots festgesetzt werden, dann wird es stiller um sie. Und nicht zuletzt hat im letzten halben Jahr die Corona-Pandemie viele andere Themen aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt.

Woran gilt es zu arbeiten?
Unsere Sensibilität für die jeweiligen Bedürfnisse muss sich weiter schärfen, unsere Angebote für Bildung und Lernen können besser werden. Und vieles, woran wir auch in Hamburg arbeiten, ist gar nicht flüchtlingsspezifisch: ausreichend bezahlbarer Wohnraum, mehr Möglichkeiten für Menschen mit ungewöhnlichen Bildungsbiografien, die Förderung eines solidarischen und kritischen Miteinanders und vieles mehr....

 


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