Interview Jedes 5. Kind lebt in Armut


Hamburg ist eine wohlhabende Stadt und doch gibt es viele Familien, in denen das Geld sehr knapp ist. Jedes fünfte Kind in der Hansestadt gilt als arm. Ein Zustand, der sich seit Jahren nicht wesentlich geändert hat. Mit dieser Stagnation will sich das Diakonische Werk Hamburg nicht abfinden. Redakteurin Yvonne Nadler hat mit Dirk Hauer, Fachbereichsleiter Migration und Existenzsicherung bei der Diakonie, über das Problem gesprochen und den Experten gefragt, inwiefern die Nöte bei der Kinderarmut durch Corona größer werden.

 

Die Armut der Kinder und ihrer Familien in Hamburg stagniert auf hohem Niveau. Es gibt seit Jahren keine Verbesserung. Und nun hat sich die Situation auch noch im Rahmen von Corona noch einmal verschärft. Wie alarmierend ist die Lage?

Die Lage ist furchtbar; aber sie ist vor allem auch deshalb so schrecklich und frustrierend, weil sich an der Armutslage von Kindern in diesem Land und in dieser Stadt seit Jahren nichts ändert. Bundesweit lebt im Prinzip seit 10 Jahren jedes 5. Kind in Armut, in Hamburg ist es im selben Zeitraum fast jedes 4. Kind. Familien mit mehreren Kindern sind besonders armutsgefährdet, empirisch steigt das Armutsgefährdungsrisiko ab dem dritten Kind rapide. Wir haben Kinderarmut in einem beschämenden Ausmaß also sowohl vor Corona als auch vor 2015. Die Sozialsenatorin irrt also, wenn sie im Abendblatt behauptet, Hamburg stünde besser da, wenn es die Zuwanderung von 2015 nicht gegeben hätte. Frustrierend ist das Ganze deswegen, weil die Wohlfahrtsverbände und andere immer wieder auf die Not von Kindern in der reichen Stadt Hamburg hingewiesen haben, die Politik aber über all die Jahre nicht in der Lage gewesen ist, hier eine Trendwende hinzubekommen.

 

Was sind die Faktoren, die ein Kind arm machen?

Armut hat viele Dimensionen und Facetten, aber im Kern ist die Antwort auf diese Frage eigentlich sehr einfach: Kinder sind arm, weil ihre Eltern arm sind. Und arm sein heißt hier erstmal kein Geld zu haben. Kindern und ihren Eltern fehlt schlicht das Geld, dass man in dieser Stadt fürs Leben braucht: für Kleidung, für gesundes Essen, für eine vernünftige Wohnung, für Teilhabe an Sport und Kultur, für Mobilität. Vom Kindergeburtstag über das Fahrrad, vom Besuch von Freunden und Verwandten bis zu Kino und Theater, vom Buch bis zum Ausflug nach Hagenbeck – für alle diese Dinge, die für die meisten von uns zu einem normalen Leben gehören, fehlt Kindern in Armutsfamilien das Geld.

 

Tut die Politik zu wenig, um Kindern Armut zu ersparen?

Das ist aus meiner Sicht ganz offensichtlich und wird ja auch von der aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung so festgestellt. Seit Jahr und Tag weisen die Fachleute darauf hin, dass die Regelsätze des SGB II und andere soziale Transferleistungen unter der Armutsgrenze liegen. Bis heute weigert sich die Politik, die sozialen Sicherungssysteme armutsfest zu gestalten. Ebenso fehlt eine durchgreifende politische Regulierung des Niedriglohnsektors und prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Es hat fast den Eindruck, als habe sich Politik mit der Einkommensarmut von Familien arrangiert.

 

Was sind Ihrem Eindruck derzeit die drängendsten Probleme der Familien in Armut?

Das drängendste Problem besteht schlicht darin, jeden Cent umdrehen zu müssen und dann immer noch nicht zu wissen, wann man die dringend benötigten neuen Kinderschuhe kaufen soll oder ob der Kindergeburtstag ausfallen muss, weil der Kühlschrank kaputt ist und dringend ein neuer her muss. Kinder und Eltern in Armutsfamilien leben täglich buchstäblich im Dauerstress, das Alltagsleben organisiert zu bekommen. Und das hat Folgen: Wer wenig Geld hat, lebt in beengten Wohnverhältnissen und nicht unbedingt im Grünen mit viel Platz zum Spielen und Toben. Die Belastungen, die das mit sich bringt, hat Corona schlagartig verdeutlicht. Und wer zwei oder gar drei Jobs machen muss, um Geld zu verdienen, wir des deutlich schwerer haben, die Kinder in der Schule zu unterstützen, mit ihnen Ausflüge zu machen oder ihnen die notwendigen Entwicklungsangebote zur Verfügung zu stellen. 

 

Was schlagen Sie vor?

Den allermeisten Familien wäre geholfen, wenn sie ein bisschen mehr Geld im Portemonnaie hätten. Eine armutsfeste Kindergrundsicherung, deutlich höhere SGB II Regelsätze, höhere Mindestlöhne, aber auch ein kostenloser öffentlicher Personennahverkehr oder Sozialrabatte in Schwimmbädern, Sportvereinen, Museen, Kinos und Theatern wären richtige und wichtige Schritte. Eine deutliche Verbesserung der Wohnungsversorgung gerade für Armutshaushalte und eine Strukturreform im Bildungsbereich müssten als strukturelle Maßnahmen dazu kommen. Arme und benachteiligte Kinder brauchen die besten Schulen und die besten Lehrer*innen.

 

Wie begegnet die Diakonie diesem Problem?

Die Bekämpfung von Armut ist vor allem eine politische und sozialstaatliche Aufgabe, gerade weil es hier in hohem Maße um notwendige strukturelle Maßnahmen geht. Die Diakonie weist immer wieder auf bestehende Missstände hin, setzt sich für bessere gesetzliche Rahmenbedingungen ein und entwickelt hierzu auch konkrete Vorschläge. Und natürlich sind die Unterstützung und Hilfe für Menschen in Armutslagen und die Kinder- und Jugendhilfe zentrale Arbeitsfelder diakonischer Träger und Einrichtungen.  Diakonischen Einrichtungen und Sozialberatungsstellen helfen Betroffenen bei der Geltendmachung und Durchsetzung ihrer Rechte. Die diakonische Kinder- und Jugendhilfe entwickelt Projekte zur Stärkung von Kinderrechten und unterstützt Kinder und Jugendliche aus Armutsfamilien in der Jugendsozialarbeit, in der Familien- und Erziehungshilfe und all den anderen Arbeitsfeldern des Hilfesystems. 

 

Was halten Sie von Teilhabegeld oder Kindergrundsicherung?

Die Kindergrundsicherung ist ein Thema, das letztlich auf der Bundesebene geklärt und entschieden wird. Die Diakonie setzt sich dabei ausdrücklich für eine Kindergrundsicherung ein. In unserer Vorstellung ist sie ein wichtiger Baustein in einer grundsätzlichen Reform der sozialen Sicherung in diesem Land.

 

Wie schätzen sie Situation der Familien in Bezug auf die Armutsgefährdung ein, also derjenigen die sozusagen kurz über der Armutsgrenze leben?

Ein Arbeitseinkommen schützt überhaupt nicht vor Armut. In der Tat: Mit der Ausweitung des Niedriglohnsektors und prekärer Beschäftigungsverhältnisse leben auch viele Arbeitnehmer*innenhaushalte an oder nur knapp über der Armutsgrenze. Für sie und ihre Kinder stellt sich die Situation folglich kaum anders dar als für Familien im SGB II Bezug. Das Thema Armut ist nicht nur ein SGB II Thema sondern auch eines niedriger Löhne.