Mittwochmorgen, 8 Uhr. Ein großer Transporter fährt an die Verladestelle der Hamburger Messehallen. „Essen, wo es hingehört“, steht auf einer großen Schiebetür. Ein Mann öffnet sie schwungvoll und beginnt zusammen mit einem Kollegen, große Bleche einzuladen. Es sind an die 20 Platten Kuchen, die auf der INTERNORGA, der großen Gastronomie-Messe, keine Abnehmer gefunden haben.
Etwa zehn Kilometer Luftlinie entfernt von den Hamburger Messehallen verpacken Ehrenamtliche vier Stunden später die Backwaren in stapelbare Körbe. Danach geht der Weg des Kuchens weiter. Endstation ist ein Jugendprojekt in Wilhelmsburg.
Lebensmittel-Tafeln wie die in Wilhelmsburg gehen mit Überproduktion und Wegwerfmentalität sinnvoll um. Unter dem Dach des Vereins der Arbeitsloseninitiative Wilhelmsburg sorgt sie seit zehn Jahren dafür, dass Lebensmittel anstatt in der Mülltonne bei bedürftigen Menschen des Stadtteils landen.
Wer das Angebot in Anspruch nehmen möchte, darf kommen
Die Lieferung bis vor die Tür gehört nicht zum Standard der Einrichtung. Nur einige wenige, deren Mobilität eingeschränkt ist, bekommen Lebensmittel geliefert. Die restlichen etwa 1200 Menschen, die das Angebot der Tafel regelmäßig pro Monat in Anspruch nehmen, folgen den Regeln des Hauses. Die „Kunden, wie sie der Einfachheit halber genannt werden, kommen um 10 Uhr morgens und holen sich eine Wertmarke ab. Dafür müssen sie ihre Bedürftigkeit nachweisen und vier Euro bezahlen. „Wir verzichten darauf, bestimmte Einkommensuntergrenzen zu prüfen“, sagt Gudrun Toporan-Schmidt, die Leiterin der Einrichtung. „Ob sie unser Angebot brauchen, entscheiden die Kunden selbst“, sagt sie. Viele Obdachlose und Flüchtlinge neben das Angebot der Tafel in Anspruch, Alleinerziehende, Rentner und Studenten ebenso. Sie haben eins gemeinsam: Für sie reicht das Geld, das sie monatlich zur Verfügung haben, nicht zum Leben.
Die Aussage des künftigen Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) klingt in diesem Zusammenhang wie blanker Hohn. Angesichts der Diskussion um den Aufnahmestopp für Ausländer bei der Essener Tafel hatte Spahn erklärt: „Niemand müsste in Deutschland hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe.“ Dirk Hauer bezeichnet diese Aussagen als puren Unsinn. Er ist Leiter des Fachbereiches Migration- und Existenzsicherung beim Diakonischen Werk Hamburg. So etwas wie Herr Spahn, kann nur jemand sagen, der meilenweit von den Bedürfnissen der Menschen entfernt lebt.“
12.000 Haushalte nutzen die Angebote der Tafeln in Hamburg wöchentlich
Allein im Bereich von Kirchengemeinden und diakonischen Trägern gibt es in Hamburg drei Tafeln mit 22 Ausgabestellen. Neben der Wilhelmsburger Tafel sind dies die Bergedorfer Tafel und die die Hamburger Tafel. Letztere gibt keine Lebensmittel direkt aus, sondern verteilt sie an verschiedene soziale Einrichtungen oder Kirchengemeinden. Diese Stellen geben die Lebensmittel an Menschen weiter oder verarbeiten die Lebensmittel zu Essen. Etwa 12.000 Haushalte nutzen diese Ausgabestellen und Tafeln wöchentlich.
„Wenn es die Tafeln nicht gäbe. Würde die Armut in richtige Verelendung umschlagen“, sagt Hauer. Die Anzahl der Bedürftigen nehme kontinuierlich zu. „Das bringt die Tafeln in eine Bredouille. Die Mitarbeiter sind überlastet und müssen entscheiden, wer bedient wird und wer nicht. Und in arm und richtig arm unterscheiden zu müssen, das ist eine gruselige Situation.“
„Bei uns wird niemand abgewiesen“, sagt Werner Müller. Der 65-Jährige ist einer von drei Hauptamtlichen bei der Wilhelmsburger Tafel. Sein Job: Die Lebensmittel in Empfang zu nehmen, die Supermärkte oder die Gastronomie in Wilhelmsburg aber auch ganz Hamburg aussortieren. Zwei Teams aufgeteilt auf zwei Transporter machen sich dazu morgens auf den Weg. „Ich bin seit 13 Jahren hier“, sagt er und nimmt einen Schluck von seinem heißen Kaffee. Er sitzt an einem Tisch in einem Nebenraum der Wilhemsburger Tafel. Um 12 Uhr hat er bereits vier Stunden seiner Arbeit hinter sich. Werner Müller gönnt sich etwas Ruhe, während die Schicht für andere erst begonnen hat. „Wir sind die einzige Tafel mit Sechs-Tage-Woche“, sagt er. Neben Lebensmitteln zu den Ausgabezeiten bekommen Bedürftige hier mittags ein warmes Essen, morgens Frühstück und manchmal nachmittags Kaffee und Kuchen, alles zu einem keinen Unkostenbeitrag. Für viele ist das trotzdem Luxus.
Verformte Dosen, aufgerissene Klopapierpackungen, Lebensmittel, deren Haltbarkeit in naher Zukunft abläuft: Die Tafel nimmt alles entgegen. Wer Lebensmittel abzugeben hat, kann anrufen und die Mitarbeiter holen die überflüssigen Lebensmittel ab.
Was schimmelt, wird aussortiert
Auf dem Hof der Einrichtung geht dann noch einmal alles durch die prüfenden Hände der Mitarbeiter. „Was vergammelt ist, kommt natürlich in den Müll“, sagt Johannie Unrau. Die 20-Jährige gehört zum Team aus derzeit 28 Ehrenamtlichen, die für die Tafel im Einsatz sind. Johannie Unrau arbeitet einmal pro Woche auf der Ausgabefläche. Der Raum ist etwa 20 Quadratmeter groß, von Regalen gesäumt und befindet sich im Untergeschoss.
Um 12.50 Uhr haben sich bereits sechs Mitarbeiter hier eingefunden. Sie verschaffen sich schnell einen Überblick über die heute vorhandenen Lebensmittel. Jeder von ihnen übernimmt die Ausgabe einer bestimmten Lebensmittelgruppe. Brot, Konserven, Milchprodukte, Fleisch, Fisch, Obst. Das Gemüse befindet sich in einem extra Raum gleich nebenan. Heute ist besonders viel Brot da, weitere Reste der INTERNORGA. Draußen vor dem Eingang hat sich eine Schlange von etwa 30 Menschen gebildet. Still und geduldig warten sie, bis sich die Türen der Lebensmittelausgabe öffnen. Ab 13 Uhr dürfen sie der Reihe nach in den Raum treten. Von Gedränge keine Spur. Eine Frau mittleren Alters ist die erste, sie hat ihren Einkaufstrolley sowie eine große Plastiktüte mitgebracht. Die Kunden bekommen so viele Lebensmittel, bis ihre Tüten gefüllt sind. Dabei gilt das Prinzip: Der erste kriegt genauso viel wie der letzte.
Die Mitarbeiter achten darauf, dass alles gerecht verteilt wird. Sie packen die entsprechenden Lebensmittel in die Tüten. „Möchten Sie Brot?“ „Ja“. „Mozzarella?“ „Nein.“ „Fischsuppe?“ Es geht ruhig und höflich zu. Die meisten Kunden lächeln, bedanken sich mehrfach, andere schauen demütig zu Boden, während die Mitarbeiter ihnen die Lebensmittel zustecken. „Äpfel bitte“, sagt ein älterer Mann. Eine Mitarbeiterin fängt an, ihm eine Apfel nach dem anderen in den Korb zu füllen „Stop“ sagt er nach dem vierten. „Die anderen sollen ja auch was haben.“
Auch Erklärungen sind nötig. „Sauce Hollandaise? Lecker. Sauce für Spargel. Schmeckt gut.“ Viele der Kunden sprechen gebrochen Deutsch. Doch in der Wilhelmsburger Tafel versteht man sich auch ohne Worte. Zur Not mit Händen und Füßen. Sogar der Fünf-Liter-Eimer Rhabarber-Joghurt geht heute weg. Die Kundin hat eine große Familie und ihre Kinder lieben Joghurt. Am Ende der Runde sind die Tüten und Tragetaschen prall gefüllt. Das Essen reicht je nach Größe der Familie mehrere Tage.
Finanzierung auf wackeligen Beinen
Die Sechs-Tage-Woche bietet den Kunden Flexibilität und der Einrichtung die Möglichkeit, den täglichen Andrang in Grenzen zu halten. „Supermärkte haben ja auch jeden Tag geöffnet. Wir wollen niemanden benachteiligen“, sagt Leiterin Gudrun Toporan-Schmidt. Seit zehn Jahren ist sie für die Tafel im Einsatz. In dieser Zeit hat sich die Einrichtung stets selbst finanziert. Von 2013 bis 2015 zahlte das Bezirksamt Mitte finanzielle Unterstützung.
Heute muss die Tafel sich durch das Geld finanzieren, was durch den Verkauf der Marken hereinkommt. Ab und zu gibt es Geldspenden. Das Budget ist knapp und unsicher. Demgegenüber stehen drei Hauptamtliche, Instandhaltungskosten, sowie Benzin und die Reparaturkosten, wenn man mal wieder einer der Transporter kaputtgegangen ist. „Der eine gibt bald den Geist auf“, sagt Werner Müller. Wo Ersatz herkommen soll, wissen Gudrun Toporan-Schmidt und ihr Team noch nicht. Die Tafel arbeitet für Menschen am Rand der Gesellschaft und scheint ebenfalls dort zu stehen.
Pinneberger Tafel mit ausgeklügeltem System
Fristen die Tafeln ein Schattendasein? Die Debatte jedenfalls hat sie wieder ins Gespräch gebracht. „Das ist das einzig Sinnvolle an dieser aktuellen Debatte, dass die Tafeln wieder Aufmerksamkeit bekommen“, sagt Brigitte Ehrich. Sie gehört zum Ehrenamtlichen-Team der Pinneberger Tafel. Hier werden 250 Bedürftige pro Woche versorgt. Die Lebensmittelausgabe beschränkt sich auf zwei Tage pro Woche. Dass es hier trotzdem nicht zum Gedränge kommt, liegt an einem ausgeklügelten System.
Die Pinneberger Tafel arbeitet mit Registrierungen und gibt Nummern und Terminplan an die Kunden aus. So kann sie steuern, dass jeder Kunde manchmal zuerst und manchmal zuletzt an der Reihe ist. Die Mitarbeiter lassen Kleingruppen im Viertelstundentakt herein. Jede Woche kommen auch in Pinneberg Neuanmeldungen hinzu. Zurückgeschickt wird niemand. „Wenn es bei einer Tafel zu Unstimmigkeiten kommt, liegt es an der Organisation der Tafel“, sagt Ehrich. Auch den Äußerungen von CDU-Politiker Spahn hat sie etwas entgegenzusetzen: „Tafeln sorgen dafür, dass Lebensmittle nicht wegschmissen werden. Allein schon deshalb werden sie niemals überflüssig werden.“
Ausgabezeiten der Wilhelmsburger Tafel, „Altes Deichhaus“, Vogelhüttendeich 55 , 21107 Hamburg
Lebensmittelausgabe: Dienstag bis Freitag ab 13 Uhr, samstags ab 12.30 Uhr
Frühstück: Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, ab 8:30 bis 10 Uhr
Mittagstisch: Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, ab 11:30 bis 12.30 Uhr
Weitere Vergabestellen
Dienstags: Gemeindehaus St. Raphael - Jungnickelstraße 21, Bonausgabe 10:00 Uhr
Frühstück 11 bis 13 Uhr, Lebensmittelausgabe 13 Uhr
Mittwochs: Gemeindehaus Kirchdorf- Kirchdorfer Straße 170, Bonausgabe: 10:00 Uhr
Mittagstisch 12:00 bis 13:00
Lebensmittelausgabe 13:00 Uhr
Lebensmittelausgabe der Pinneberger Tafel:
Zwei Ausgabestellen:
Ausgabe am Dienstag: Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde, Fahltskamp 79
Ausgabe am Donnerstag: Gemeindehaus der Lutherkirche, Kirchhofsweg 53a
Anmeldung jeweils: 11.30 Uhr bis 12.00 Uhr
Links & Downloads
Diskussionspapier zum Thema Tafeln vom Diakonischen Werl (Pdf)