Die kirchliche Entwicklung in Tonndorf
Festschrift zur 650 Jahrfeier des Stadtteils Tonndorf (1964)
PASTOR FRITZ DORAU
Über das kirchliche Leben in Tonndorf aus alter Zeit ist wohl heute nichts Genaues mehr festzustellen. Das kleine Dorf Tonndorf gehörte bis 1927 zur Kirchengemeinde Alt-Rahlstedt. Ihr letzter Pastor war der noch heute dort im Ruhestand lebende Pastor Hoeck.
Die alten Tonndorfer hatten ihre Begräbnisplätze in Rahlstedt, erst die «Zugereisten» bestatteten etwa seit der Jahrhundertwende ihre Toten auf dem Wandsbeker Friedhof in Tonndorf.
Nach der Eingemeindung in Wandsbek gehörte dann Tonndorf zur Kreuz-Kirche in Wandsbek. Seit 1933 war der auch als Heimatforscher bekanntgewordene Pastor D. Dr. Jensen ihr Seelsorger. Ein eigenes kirchliches Leben begann in Tonndorf aber erst am Ende des letzten Krieges.
Durch die Ausbombung Wandsbeks und Hamburgs stieg die Einwohnerzahl Tonndorfs plötzlich sehr an, da die vielen Lauben- und Wochenendhäuser hier nun von den Ausgebombten zu kleinen Eigenheimen ausgebaut wurden. Pastor D. Dr. Jensen versuchte nun etwa monatlich einmal im primitiven Turnsaal der Tonndorfer Schule einen Gottesdienst zu halten, zu dem sich aber meist nur ältere Gemeindemitglieder und die Konfirmanden einfanden. Da der Bezirk, den der alte Pastor Jensen zu betreuen hatte, fast 22000 Bewohner zählte, war eine auch nur annähernd ausreichende Seelsorgearbeit nicht mehr möglich. So versuchte man 1948 für Tonndorf einen eigenen Pastor zu bekommen.
Verlockend sah dies Tonndorf damals nicht aus. Kein eigener Raum! Als einzige mögliche Predigtstätte nur der kleine Turnsaal! So erging der Ruf damals an mich, doch hier mit dem Aufbau der Gemeinde zu beginnen. Pastor Dr. Jensen und auch der damalige Propst Hansen-Petersen machten mir Mut. So kam ich am 1.7. 1948 als erster Pastor nach Tonndorf, die Währungsreform war gerade durchgeführt. Unterricht gab ich auch in den Klassenzimmern der alten Schule. Ich erinnere mich noch, wie die Konfirmandinnen, die damals fast alle noch Zöpfe trugen, neugierig nach dem neuen Pastor Ausschau hielten, der ja noch „ganz jung“ sein sollte. Es waren nette Konfirmanden, mit denen ich damals anfing, die Gemeinde Tonndorf aufzubauen.
Der Kirchenraum hatte zwar eine Primitivität, wie wir sie uns heute kaum vorstellen können. Die Erwachsenen - es waren meist ältere Leute – saßen auf niedrigen Bänken ohne Leime, die Jugendlichen auf den Harren und Leitern, die am Rande des Raumes standen. Als Altar diente ein wackeliger Tisch, (Größe etwa 100 x 60 cm) daneben stand ein noch wackeligeres Harmonium. „Organist“ war ein damals 12jähriger Junge, der es aber später zu einem recht angesehenen Organisten unserer Kirche gebracht hat. Gesangbücher waren die kleinen Militärgesangbücher, in denen noch die Gebete für Adolf Hitler standen.
Eine Wohnung bzw. 1 Zimmer für den Pastor war auch nicht vorhanden. Ich wohnte damals am anderen Ende von Hamburg und brauchte mindestens 1 1/2 Stunde Fahrzeit, um in meine Gemeinde zu kommen: Aber langsam ging es bergan. Zum Erntedankfest 1948 konnten wir die dürftig wiederhergestellte Friedhofskapelle auf dem Tonndorfer Friedhof zu Gottesdiensten benutzen. Das war ein außerordentlicher Fortschritt. Der Besuch der Gottesdienste stieg schnell an, oft hatten wir schon damals 140 bis 180 Besucher. Wenn großer Besuch war, mußten die Konfirmanden an den Wänden der kleinen Kapelle stehen, weil bei weitem die Sitzplätze nicht reichten. Ich wünschte, wir hätten heute nach 15 Jahren noch etwas mehr von jener „ersten Liebe“ zur Kirche. Als wir in der Adventszeit 1948 mit den Konfirmanden ein großes Krippenspiel eingeübt hatten, waren an einem Sonntag in drei Gottesdiensten hintereinander 800 Gottesdienstbesucher in der Kapelle.
Jetzt fand der Pastor auch ein möbliertes Zimmer, wo er dann auch nach seiner Heirat drei Jahre lang wohnte. In dem Zimmer wurde gewohnt geschlafen - und wenn es sein mußte - gekocht. Bald kam dann auch ein kleines Amtszimmer hinzu. Eine eigene Küche oder WC gab es nicht. Ja, damals konnte man noch bescheiden und zufrieden zugleich sein.
1951 wurde dann das Friedhofsverwalterhaus wieder aufgebaut, wo nun auch der Tonndorfer Pastor eine kleine Dreizimmerwohnung im Dachgeschoß erhielt. Konfirmanden- und Jugendstunden, auch die Bibelstunde sowie die Frauen- und Männerabende fanden in dem damals noch längst nicht so gut ausgestatteten Warteraum der Friedhofskapelle statt. Und oft genug begegneten den abendlichen Besuchern im Dunkeln Männer, die einen Sarg im Nebenraum abstellten. Wer damals in der Friedhofskapelle Licht anknipsen wollte, mußte in den Aufbewahrungsraum der Leichen, weil dort der einzige Schalter war. Wie oft mußte ich die jungen Mädchen ermahnen, ihre Mäntel doch nicht auf die Leichenbahren ablegen zu wollen. Es war sicher ein gespenstisches Bild, wenn zu später Stunde Frauen mit Kaffeekannen über den dunklen Friedhof huschten; denn der Kaffee für ein gemütliches Beisammen sein mußte ja erst in der Pfarrerswohnung im gegenüberliegenden Verwalterhaus gekocht werden.
Doch 1953/54 kam dann die große Wende. Tonndorf bekam eine eigene Kirche und auch ein Gemeindehaus mit Pfarrwohnung an der Stein-Hardenberg-Straße. Mit wenig Mitteln, die der Kirchengemeindeverband Wandsbek bereitstellen konnte, baute der Architekt Dipl. Ing. Richard Starck aus Jenfeld Kirche und Gemeindehaus. Der Bau der Kirche kostete damals gute 100.000 DM und hatte doch Raum für etwa 400 Besucher. Die Kirche erhielt gleich zu Beginn eine Kemper-Orgel mit 13 Registern, fünf Jahre später dann die großen Glas-Betonfenster, die den Heilsweg darstellen. Besonders diese Fenster geben der Kirche einen sehr eindrucksvollen modernen Schmuck. Noch bei tiefer Dämmerung leuchten sie in schönen klaren Farben. Erst im letzten Herbst wurde dann durch den jungen Architekten Stender der Innenraum durch gute Holzarbeiten verschönt.
Rückschauend auf die kirchliche Entwicklung kann man wohl sagen, dass sie bei der Jugend anfing. Die Jugendlichen waren die ersten, die regelmäßig in Kreisen zusammenkamen. Ihnen folgten dann die Mütter und die Großmütter, schließlich fand sich auch ein treuer Stamm von Männern, aus denen dann auch der erste Kirchenvorstand erwuchs. Im Januar 1950 war ich als 5. Pastor der Kreuzkirche mit dem Amtssitz in Tonndorf feierlich durch den damaligen Propsten Hansen-Petersen in das Amt eingeführt worden. Assistenten bei der Einführung waren der alte Pastor Dr. Jensen und Pastor Ernst Fischer, der jetzige Landessuperintendant von Lauenburg. Nun war auch der Weg frei zu einer selbständigen Kirchengemeinde Tonndorf, die 1950 staats- und kirchenrechtlich bestätigt wurde.
Von Bedeutung für die Frühzeit unseres kirchlichen Lebens am Anfang der 50er Jahre waren die großen Busfahrten der Jugend, damals noch etwas Neues und mit viel Dank aufgenommenes. Es war schon etwas Großes, dass nach den langen Kriegs- und Notjahren die Jugend wieder auf große Fahrt gehen konnte und die Schönheiten Deutschlands besonders im Süden und Westen unseres kleingewordenen Vaterlandes kennenlernen konnte. Langsam war auch Tonndorf für einen Pastor zu groß geworden und die 2. Pfarrstelle konnte gegründet werden. Sie wurde 1958 mit Herrn Pastor Reinhardt besetzt. Für seinen südlichen Pfarrbezirk konnte 1962 ein schönes großes Gemeindehaus am Roterlenweg errichtet werden, in dem auch sonntäglich Gottesdienste gehalten werden, zu denen sich besonders die Gemeindeglieder sammeln möchten, die in den großen Neubaugebieten an der Köpenicker und Schöneberger Straße wohnen. Ein kleiner Glockenturm, den wir dort errichten wollen, möge durch seine Glocken auch dort bald die Bewohner von Tonndorf zur Anbetung Gottes rufen.