Was kann die Kirche aus Ihrer Sicht in einer Stadt wie Hamburg leisten?
Die Verwaltung hat sich seit den 1970er Jahren aus den Stadteilen in die Bezirke zurückgezogen. Die Kirche ist noch vor Ort. Das ist die gute Nachricht. Kirchen sind dafür da, behutsam mit dem umzugehen, was wir nicht verstehen – mit dem Leben und seinen Grenzen. Menschen engagieren sich in der Kirche, weil sie Gemeinschaft finden und in ihrer Gemeinde mitbestimmen können. Eine Kirche ohne Präsenz vor Ort wäre absurd. Sie gräbt sich selbst das Wasser ab.
Warum?
Ein Grund ist etwa, dass Bürger Räume brauchen, um sich zu treffen, um sich miteinander wohl zu fühlen. Eine wesentliche Ressource einer Kirchengemeinde sind also ihre Räume. Das zeigt sich jetzt wieder in der Flüchtlingshilfe, wo sich viele Freiwillige in Gemeinden treffen.
Nur noch ein Drittel der Menschen in Hamburg und Umgebung sind evangelisch-lutherisch. Müssen sich Gemeinden mehr für Menschen aus anderen Religionen öffnen?
Das passiert ja schon längst. Der Kern des christlichen Glaubens ist eine Liebe, die keine Unterschiede zwischen Menschen macht. Niemanden auszugrenzen ist zugleich ein demokratisches Grundprinzip. Wichtig ist, dass die Gemeinden einladend sind, dass sie ein emotionaler Hafen sind, in dem sich die Menschen gut verankert fühlen.
Sie plädieren in ihrem Buch für einen Wettbewerb zwischen Stadtteilen. Kann man das auch auf Kirchengemeinden übertragen?
Auf jeden Fall. Ich meine keinen Wettbewerb in dem Sinne, dass man seinen Konkurrenten ausschaltet. Sondern spielerisch, eher wie beim Fußball: Auch wenn ein Verein nicht Ligameister wird, spielt er in der nächsten Saison trotzdem weiter und will sich verbessern. So eine Art von Wettstreit ist in uns Menschen angelegt. Er bringt voran.
Wie kann das konkret aussehen?
Indem man sich etwa eine Partnergemeinde sucht, die unter ähnlichen Bedingungen existiert, dieselbe Mitgliederzahl und Struktur hat – und schaut, was können wir von denen lernen? Was kann der Osdorfer Born von Steilshoop, was kann Blankenese von Harvestehude lernen und umgekehrt? Wir brauchen einen horizontalen Austausch zwischen den Gemeinden. Und nicht eine Haltung, die darauf wartet, was von oben kommt.
Wie wichtig ist ehrenamtliche Arbeit für einen Stadtteil?
Der Kern unserer Gesellschaft besteht rein zeitlich gerechnet aus dem, was ohne Bezahlung geleistet wird – in der Familie, in Vereinen, in der Kirchengemeinde. So gesehen ist die „Zivilgesellschaft“ kein separates System, sondern das Zentrum unseres Zusammenlebens. Wir sind Inhaber und nicht Kunden eines Dienstleisters, der sich Staat nennt. Um das System zu ändern, sollte man jedoch nicht die Profis abschaffen. Ehrenamtliche müssen auf Hauptamtliche und ihre Netzwerke zurückgreifen können. Was wir aber brauchen, ist ein Perspektivwechsel.
Was wünschen Sie sich von der Kirche in diesem Zusammenhang?
Vielerlei: dass die Pastoren eine Sprache sprechen, die alle verstehen. Behutsamkeit im Umgang mit dem, was wir nicht wissen. Spielerisches Wagnis, pragmatisches Handeln. Zum Beispiel Gemeindehäuser auch öffnen für gemeinnützige Projekte in den Quartieren.
Wird die Kirche so nicht zum Reparaturbetrieb des Staates?
Weil Verwaltung und Politik sich vielfach aus den Stadtteilen zurückgezogen haben, kann dieser Eindruck entstehen. Wenn sie wieder dorthin zurückkehren, kann man gemeinsam viel erreichen. Das Zukunftsforum Blankenese ist 2009 aus der Gemeinde am Markt entstanden und dort angedockt. Einige unserer zentralen Themen: die Mitgestaltung des Ortskerns, Verkehr und Mobilität, Energie und Umgang mit natürlichen Ressourcen, Datentransparenz. Wir setzen gerade ein Fachforum für die Integration von Flüchtlingen in Gang, sowie eines für die Zusammenarbeit von Schulen und Stadtteil.
Stichwort Klimawandel – was können Kirchen da leisten?
Kirchengemeinden können auch in punkto Nachhaltigkeit Vorbild sein. So versorgt die Blankeneser Kirche am Markt ihre sechs Gebäude mit einem umweltfreundlichen Heizsystem. Die noch wichtigere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Menschen sich dabei unterstützen behutsam zu leben – mit Spaß und mit Blick auf künftige Generationen. Leben heißt für Leben sorgen, für sich selbst, seine Kinder, sein Umfeld, den lebendigen Planeten. Dafür brauchen wir starke, wendige und offene Einheiten vor Ort.
Der niederländische Publizist, Nachhaltigkeitsexperte und Sinologe Harris Tiddens, 62, ist Geschäftsführer des Zukunftsforums Blankenese. In seinem Buch „Wurzeln für die lebende Stadt“ (Oekom Verlag) plädiert er dafür, die Stadt von unten zu denken, anstatt sie zentralistisch von oben zu steuern.