Pastor Jonas Goebel im Interview Warum sich Gottesdienste verändern müssen


Wäre das Wetter nicht – recht typisch für Hamburg – grau, würde der imposante Turm der Ev. Luth. Auferstehungskirchengemeinde in Lohbrügge womöglich gar nicht so auffallen. Schließlich hat man ihn mit einem strahlend blauen und mit Wolken versehenen Himmel bemalt, der an einladende Sonnentage erinnert.

Einladend ist auch der Innenhof des Geländes: Blumen und Pflanzen finden sich hier sowie Bierbänke und Sonnenschirme. Ein Angebot zum Verweilen, Austauschen und Sinnieren, das in Hamburg und in Deutschland als Ganzes gesehen immer weniger Menschen annehmen: Die Zahl derer, die an Gottesdiensten teilnehmen, geht seit Jahren zurück. 

Bei der Evangelischen Kirche in Deutschland lag die Zahl der Gottesdienstbesuchenden im Jahr 2021 bei ca. 314.000 – das entspricht ca. 1,6 Prozent der Mitglieder. Im Jahr 2019 lag sie mit ca. 682.000 noch bei mehr als dem Doppelten. Je nach Bundesland, Ort und Gemeinde sind die Kirchen sicherlich unterschiedlich leer – doch dass sie leerer werden, ist ein Fakt. 

Haben die Menschen kein Interesse mehr an Predigten, an einer Gemeinschaft, die sich zusammenfindet? Gar am Glauben als Ganzes? Darauf hat Pastor Jonas Goebel natürlich auch keine allgemeingültige Antwort, zu komplex und facettenreich ist das Thema. Doch er hat für sich und seine Gemeinde, die Auferstehungsgemeinde in Lohbrügge, einen Ansatz gefunden, Gottesdienste für die Menschen wieder interessanter zu machen – und lädt andere dazu ein, es ihm nachzuahmen. 

„Heutzutage müssen wir Gottesdienste anders anpreisen“ 

Seiner Idee kam eine Erkenntnis zuvor, die gleichermaßen wichtig wie bitter ist: „Es kommen immer weniger Menschen zum Gottesdienst und es kommt erst recht niemand, weil es der ‚13. Sonntag nach Trinitatis‘ ist.“ 

„Wir haben Gottesdienste lange genauso beworben: ‚Es ist Gottesdienst, kommt!‘ Das hat noch relativ lange funktioniert, weil es den gesellschaftlichen Konsens darüber gab, dass der Kirchensonntag wichtig ist. Doch heutzutage müssen wir unsere Gottesdienste ganz anders anpreisen.“ 

In der heutigen Zeit müsse der Anlass stimmen, so der Pastor weiter. Das könne das jährliche Ritual vom Heiligabendgottesdienst sein, die Konfirmation der Nichte, oder auch die Beerdigung der Oma. „Wir haben aber festgestellt, dass es darüber hinaus noch deutlich mehr Anlässe gibt, in die Kirche zu kommen. Und wir haben vermutet, dass mehr Menschen zu Gottesdiensten kämen, wenn wir ihnen einen Grund geben.“ 

Ein Gottesdienst, den man weiterempfehlen kann 

Das Ergebnis der Überlegungen war ein Konzept, dass an Theaterspielzeiten angelehnt ist: Statt jeden Sonntag einen anderen Gottesdienst zu feiern, gibt es in Lohbrügge wenige Gottesdienste zur Auswahl, die an verschiedenen Terminen gefeiert werden (mehr zum Konzept finden Sie hier). „Man geht vielleicht gerne ins Theater, aber doch nicht grundsätzlich jeden Sonntag, nur weil im Programm steht ‚Theaterstück XY‘. Ich lese mir den Beschreibungstext durch und habe in den meisten Fällen eine Terminauswahl, bei der ich keine Angst haben muss, dass die erste Aufführung anders sein wird als die dritte.“ 

Denn: Einen Gottesdienst mag man vielleicht gut finden, doch er sei schwerlich weiterzuempfehlen, schließlich sei die Predigt jede Woche eine andere. Ein sich wiederholendes Gottesdienstprogramm lädt zur Weitergabe an Freund*innen ein – wie eben auch ein gutes Theaterstück. 

„Wir wollten den Menschen einen Grund geben, regelmäßig zu kommen. Klassischerweise steht bei vielen Gottesdiensten aktuell etwas in die Richtung von: ‚13. Sonntag nach Trinitatis, Pastor Goebel predigt‘ und bestenfalls noch eine Ergänzung mit ‚über Lukas 15‘. Wir hingegen haben uns entschieden, das Setting in den Fokus zu setzen, denn die Leute kommen nicht, weil – und da muss man auch ehrlich zu sich selbst sein – ich über Lukas 15 oder Klimaschutz oder Demokratie predige, sondern zum Beispiel weil sie Gospel mögen und sie unser Gospelchor neugierig macht.“ 

„Wir machen zu viel, ohne zu wissen, warum, für wen und mit welchem Erfolg“ 

Ist jeder Gottesdienst ein voller Erfolg? Nein, aber überhaupt zu evaluieren und ein Feedback einzufordern sei etwas, was Jonas Goebel in seiner Arbeit in der Kirche nicht häufig beobachte. „Wir arbeiten als Kirche viel zu wenig mit Zahlen und ich finde es absolut in Ordnung, Erfolg an ihnen zu messen“, sagt der Pastor. „Wenn wir weniger Spenden als im letzten Jahr haben, dann ist doch die erste Frage: warum? Wenn immer weniger Leute einen Gottesdienst besuchen, dann ist das doch erst einmal ein klares Zeichen und eine Handlungsaufforderung an uns!“ Und die Zahlen geben dem Pastor und seinem Team mit dem Ansatz Recht: Inzwischen kommen im Schnitt 81,8 Besucher*innen zum Gottesdienst in Lohbrügge (Stand: März 2024) – das sind mehr als doppelt so viele wie zum Start des Modells (39,6 im Schnitt, Stand: Oktober 2022). 

Natürlich würde ein wenig besuchter Gottesdienst nicht automatisch bedeuten, man hätte etwas falsch gemacht. „Aber wir schauen da eben genau hin und holen uns Feedback ein und fragen die Leute, wie es ihnen gefallen hat.“ Das ist unter anderem mit Gottesdienst-Fragebögen möglich, die in der Kapelle abgegeben werden können – oder auch über die Webseite anhand einer 1- bis 5-Sterne-Bewertung. 

Evaluation, das klinge nach einem so großen Thema, „dabei reicht es doch vollkommen, wenn man sich nach einer Veranstaltung zusammensetzt und überlegt: Wie ist es angekommen? Und damit meine ich explizit nicht: Wie hat es mir gefallen?“ Das soll möglichst niedrigschwellig passieren: Entweder über ein bis zwei Sätze auf dem Fragebogen oder digital mit einem Kommentar – in beiden Fällen absolut anonym. 

„Die Überwindung, dem Pastor ins Gesicht zu sagen, dass seine Predigt Mist war, ist doch analog viel höher als digital.“ Natürlich müsse man hierbei etwaige Trolle herausfiltern, die im Internet provozieren wollen, doch die meiste Rückmeldung sei konstruktiv. „Es ist nicht immer schön Feedback zu bekommen, aber ich halte es für enorm hilf- und lehrreich, um das eigene Angebot – und das auch immer wieder neu – zu hinterfragen.“ 

„1.000 verschiedene Predigten in 1.000 verschiedenen Kirchen – das ist absurd“ 

Wohnzimmerkirche, Gospelchor, „Harry Potter“ – mit den Programmen der Gottesdienste haben Pastor Jonas Goebel und sein Team das Rad nicht neu erfunden, wie er selbst betont. Und darum solle es auch nicht gehen, gegenteilig müsse Kirche sich viel mehr gegenseitig befruchten, nicht dieselbe Arbeit tausendfach an anderer Stelle wiederholen – wie es bei den Predigten der Fall sei: „Ich finde die Vorstellung absurd, dass jeden Sonntag in 1.000 Kirchen auch 1.000 verschiedene Predigten gehalten werden. Es ist überhaupt nicht nötig, dass es so viele verschiedene Predigten gibt, wer kann die denn alle parallel hören? Stattdessen wäre es doch viel sinnvoller, gegenseitig voneinander zu kopieren.“ 

Dabei sei das Thema Predigt nur ein Platzhalter für viele andere Gebiete, Projekte und Themen, bei denen Kirche die Ressourcen nicht nutze, die bereits vorhanden sind. Und natürlich ließen sich beispielsweise Gottesdienste nicht 1:1 übertragen, betont der Pastor, dafür seien Gemeinden zu individuell, aber „es kostet mich doch viel weniger Energie, etwas anzupassen, anstatt es von Grund auf neu zu erfinden. Sieht der ‚Harry Potter‘-Gottesdienst in Lohbrügge anders aus als der in Blankenese? Zweifellos, trotzdem kann er in beiden Gemeinden stattfinden“. 

Gottesdienste als das zentrale Angebot der Kirche 

Letztlich kommen Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen zu einem Gottesdienst. „Die eine Person mag vielleicht die Leute und die Gemeinschaft, die andere kann darauf verzichten, liebt aber die Atmosphäre und die nächste sucht die spirituelle Unterstützung“, erklärt Jonas Goebel. Klar ist: Was auch immer der Grund sein mag, die Menschen müssen irgendwo abgeholt werden. 

„Wir sind faktisch vor der Situation, dass wir vor einem Kollaps unseres Systems stehen. Wir werden diese Struktur, wie sie jetzt ist, nicht aufrechterhalten können und müssen und allerspätestens dann fragen, was wir behalten und worin wir noch investieren können und wollen“, warnt der Pastor. Er sieht den Gottesdienst als das zentrale Angebot der Kirche: „Hier können sich die Menschen aufladen, hier bestärken wir sie darin, weiterzumachen, zum Beispiel, sich weiter für den Klimaschutz oder Demokratie einzusetzen.“ 

Der Einsatz für beide Themen vonseiten der Kirche sei ungemein wichtig, doch „ich erwarte, dass wir mit Gott in diese Sachen hineingehen, andernfalls kann ich mich auch bei Greenpeace oder anderweitig politisch engagieren – was natürlich auch völlig fein wäre“. Doch was Kirche einbringe, müsse aus dem Glauben heraus geschehen und motiviert sein, davon ist der Pastor überzeugt. „Und das kann ich gut über den Gottesdienst erreichen, indem ich inspirierende Predigten höre, mit anderen Menschen zusammensitze und mich gegenseitig bestärke.“ Grund genug nach Wegen zu suchen, den Gottesdienst wieder attraktiver für die Menschen der Stadt zu machen. Jonas Goebel und sein Team haben für ihre Gemeinde einen gefunden.