Am Anfang war die Vielfalt, sie ist des Schöpfers Handschrift. „Und Gott sah alles an, was er geschaffen hatte, und siehe, es war sehr gut“ heißt es ganz zu Beginn, im ersten Schöpfungsbericht (1. Mose 1, 31).
Über Familienformen und Lebensweisen berichtet die Bibel in großer Vielfalt. Wer die Schriften der Hebräischen Bibel und des Neuen Testaments genau studiert, macht erstaunliche Beobachtungen: So steht im zweiten Schöpfungsbericht der Satz, der heute oft bei Trauungen gesagt wird: „Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und seiner Frau anhängen und sie werden ein Fleisch sein“ (1. Mose 2). Der Mann verlässt seine Herkunftsfamilie zugunsten der Familie seiner Frau. Ganz anders als es unserer mitteleuropäischen Denkweise entspricht, nach der eine Frau in die Familie ihres Mannes einheiratet.
Im 1. Buch Mose steht kein Wort von Ehe. In einer anderen Geschichte wird das Wort „anhängen“ für die Beziehung zwischen Ruth und Naomi verwendet. Zwei Frauen unterschiedlicher Generationen, nicht blutsverwandt, teilen ihr Leben. Die Familienerzählungen der Abrahams- und Jakobsgeschichte setzen den patriarchalen Großfamilienverband und die Vielehe voraus und erzählen beispielsweise mit Selbstverständlichkeit von der Sklavin Hagar als Leihmutter. Niemand würde heute auf den Gedanken kommen, daraus ein christliches Familienbild herzuleiten.
Familienformen werden immer diverser
Welche Maßstäbe können denn für eine gottwohlgefällige Lebensform gelten? Wie wir leben und mit wem wir leben – in Beziehungen und Familienformen – ,das wird in den letzten Jahrzehnten immer vielfältiger. Immer noch halten viele Menschen die klassische Ehe und Kleinfamilie für das „Normale“. Dabei gibt es sie erst seit etwa 200 Jahren. Die Liebesheirat ist eine Erfindung der Romantik. Das ist doch wunderbar, wenn Mann und Frau einander lieben und heiraten, eine Familie gründen. Aber es stellt sich die Frage: Wie können wir die Ehe und Familie würdigen, ohne gleichzeitig andere Lebensformen und Beziehungsweisen zu diskriminieren?
Tatsache ist: Jedes dritte Kind in Deutschland wird heute außerhalb der Ehe geboren, der Anteil der Alleinerziehenden hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ständig erhöht. Besonders in den Großstädten ist der Anteil der Singlehaushalte gewachsen. Die Akzeptanz gleichgeschlechtlich Liebender mit und ohne Kinder hat nach jahrzehntelangem Emanzipationskampf zumindest in Westeuropa zugenommen, auch intersexuelle und transidente Menschen sowie nonbinäre, die sich weder als Mann oder Frau zuordnen lassen wollen, sind in den letzten Jahren selbstbewusster und damit sichtbarer geworden. Gleichzeitig ist es erschreckend, dass diese Gruppen viel Ablehnung, Hass und Gewalt erfahren.
Eine Ehetheologie legt die Bibel nicht vor
Viele dieser Lebensformen sind auch in den biblischen Erzählungen zu entdecken. Der legendäre David, der vom Hirtenjungen zum König aufsteigt, beweint seinen toten Freund Jonathan mit den Worten „Weh ist es mir um dich, mein Bruder Jonathan, ich habe große Freude und Wonne an dir gehabt. Du warst mir sehr lieb. Wunderbarer war deine Liebe für mich, als die Liebe der Frauen“ (2. Samuel 1, 26). Eine antike Männerfreundschaft oder mehr? Später berichten die Chronisten über die vielen Frauen von König David.
Dessen Sohn Salomo hat einen noch größeren Harem mit tausend Frauen und Nebenfrauen. Manches befremdet uns heute und scheint wenig hilfreich für unsere ethische Orientierung. Die Bibel beschreibt, was im Zeithorizont als Familienformen und Lebensweisen faktisch vorliegt, eine Ehetheologie lässt sich nicht aus ihr herleiten.
Ebenfalls irritierend ist: Im Neuen Testament bricht der Ruf in die Nachfolge mit allen Familienbanden. Petrus war verheiratet, Paulus hielt nicht viel von der Ehe (1. Korinther 7). Schon Jesus hatte Familiarität und Beziehung in Abgrenzung zu seiner Herkunftsfamilie neu definiert: „Wer den Willen meines Vaters im Himmel tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter“ (Matthäus 12, 50). Maria und Martha lebten eine Hausgemeinschaft mit Lazarus, die Apostelgeschichte berichtet über die Purpurhändlerin Lydia, die einem großen Haushalt vorstand.
Die christliche Lebensform umfasst eine Vielzahl von Beziehungsweisen
Familia waren im Römischen Reich alle, die in einer Hausgemeinschaft lebten. Sie mussten nicht blutsverwandt sein. Die „Philadelphia“, Geschwisterlichkeit, wird zum Kennzeichen der jungen Gemeinden, in denen Verantwortung für Witwen und Waisen übernommen wird. Diese Familiarität hat das Christentum in den ersten Jahrhunderten für viele Menschen attraktiv gemacht. Sie ist die eigentliche christliche Lebensform, die eine Vielfalt von Beziehungsweisen zu umfassen vermag. Die Orientierung auf Christus ist das Entscheidende, das alle Statusunterschiede überbietet: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Galater 3, 28).
Im Geist des Jesus von Nazareth werden Beziehungen gestiftet, die Vielfalt nicht als Trennendes sieht, sondern als Reichtum. Es sind Beziehungen, in denen Personen und Gruppen sich gegenseitig anerkennen, feststellen, dass sie verschieden sind und dennoch zusammengehören, und einander teilhaben lassen wollen, denn „wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit“ (1. Korinther 12, 26). Es ist heute unsere Aufgabe, von dem Erfolgsrezept der frühen Kirche zu lernen und diesen Schatz der Vielfalt unter Gottes weitem Regenbogen miteinander zu heben.
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