Wir sehen die Gegenwart dieser Spuren, und wir wissen: Hier war jemand da. Hier ist jemand gegangen. Dieser jemand hatte große Füße oder auch kleine Füße. Wir sehen das Profil der Schuhe oder Teile davon.
Oder wir erkennen, dass dieser jemand ein Tier war, vielleicht ein Paarhufer oder ein Unpaarhufer oder ein Vogel. Wer Spuren lesen kann, der kann uns genau sagen, wer hier genau gegangen ist und wie alt die Spuren sind.
Ob menschliche, tierische oder auch ganz andere Spuren: Spuren sind die Gegenwart einer Abwesenheit. Derjenige, der hier gegangen ist, der ist schon nicht mehr da. Seine Gegenwart hat Spuren hinterlassen.
Jetzt ist er weg, abwesend. Seine Spuren sind aber immer noch da. Also: Die Abwesenheit ist da.
Ich stehe vor den Spuren und weiß: Hier war jemand da, der jetzt nicht mehr da ist. Wäre die Person da, dann würde ich wohl nicht auf den Boden starren. Dann würde ich der Person in die Augen schauen. Aber so starre ich auf die Spuren, auf die Gegenwart seiner Abwesenheit.
Mose wollte mehr sehen als die Spuren Gottes. Er wollte Gott sehen in seiner ganzen Pracht. Im Buch Exodus (33, 18ff) heißt es:
„Dann sagte Mose: Lass mich doch deine Herrlichkeit sehen! Der Herr gab zur Antwort: Ich will meine ganze Schönheit vor dir vorüberziehen lassen und den Namen des Herrn vor dir ausrufen. Ich gewähre Gnade, wem ich will, und ich schenke Erbarmen, wem ich will. Weiter sprach er: Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben. Dann sprach der Herr: Hier, diese Stelle da! Stell dich an diesen Felsen! Wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, stelle ich dich in den Felsspalt und halte meine Hand über dich, bis ich vorüber bin. Dann ziehe ich meine Hand zurück und du wirst meinen Rücken sehen. Mein Angesicht aber kann niemand sehen.“
Ja, Mose bekommt von Gott mehr zu sehen, als dessen Spuren. Er sieht seinen Rücken. Immerhin, könnte man sagen. Doch das ist nicht der Punkt. Gott steht Mose an dieser Stelle nicht gegenüber, wie wir uns jetzt gegenüber stehen. Von solch einer Begegnung zwischen Mose und Gott spricht das Buch Exodus an anderer Stelle (Ex. 33,11). Mose sieht also nur Gottes abgewandte Seite. Er sieht Gott, wie dieser sich entzieht. Wie dieser langsam zur Spur wird.
Gottes Spuren sind aber nicht irgendwelche Spuren. Spuren, die von Wind und Wetter wieder zum Verschwinden gebracht werden. Die sich verlieren in Zeit und Ewigkeit. Gottes Spuren bleiben. Im Buch der Psalmen lese ich:
„Du krönst das Jahr mit deiner Güte, deinen Spuren folgt Überfluss.“ (Psalm 65,12)
Und:
„Gerechtigkeit geht vor ihm her und Heil folgt der Spur seiner Schritte.“ (Psalm 85,14).
Das heißt für mich: Wer Gott nachfolgt, hat es nicht mit jemanden zu tun, den er festhalten kann und dem er seinen Willen aufzwingen kann. Gott macht sich auch nicht zum Erfüllungsgehilfen unserer Wünsche und Phantasien. Gott entzieht sich solchen Strategien.
Das heißt aber nicht, dass Gott unnahbar ist. Er ist uns nah: in Jesus Christus. Und er ist uns nah: in dem Heil, das seinen Spuren folgt. Die Antwort auf die Frage „Wo ist Gott?“ lautet also nicht: Hier ist er. Oder: Da ist er. Die Antwort lautet: Dort, wo inmitten dem Elend ein liebes Wort gesprochen wird: Dort zeigen sich seine Spuren. Dann, wenn am Ende einer langen Flucht ein Dach, ein Bett und eine warme Suppe auf mich warten: Da sehe ich Gottes Rücken. Und wenn inmitten der Unterdrückung einer aufsteht und die befreiende Wahrheit sagt: Dort ist Gottes Gegenwart vorüber gegangen.
Ich wünsche Ihnen für diesen Advent, dass Sie Gottes Spuren entdecken: in ihrem Leben, in den Augen anderer Menschen, auf den Straßen dieser Stadt. Schauen Sie gut hin: Im Unheil der Welt sind Gottes Spuren oft verborgen. Doch sie sind da, als die Zeichen eines Heils, das kommt.
Die Reihe "Sehnsucht nach dem anderen Advent" in der Hauptkirche St. Petri widmet sich in diesem Jahr dem Thema "Spuren". Der Gastbeitrag ist der Text einer Ansprache, die Heße zum Auftakt am 1. Advent gehalten hat.