Wenn du fast 400 Jahre alt bist...
Die Disposition finden Sie hier.
Wenn wir in die Kirche reingehen und da klingt eine Orgel – das ist schon fast normal, kein Wunder, aber es ist trotzdem immer faszinierend. Es ist einfach immer wieder schön. Aber so selten fragen wir uns, was für eine Geschichte dieses Instrument hat, was hat diese Orgel schon in ihrem Leben gehabt. Ist sie ein Neubau oder hat sie schon mehr als ein hundertjähriges Leben hinter sich. Jede Orgel – wie ein Mensch - hat ihren eigenen Charakter, ihr Temperament, ihr unvergleichbares Gesicht und ihre einzigartige Stimme. Man findet kaum zwei gleiche Orgeln, sogar wenn sie vom selben Orgelbauer gemacht wurden. Man sagt, dass die Orgel - wie ein Zeichen des Volkes -, uns nicht nur die Welt des Orgelbauers zeigt, sondern auch die Eigenschaften des Landes und dessen Menschen.
Das Schicksal unserer Orgel ist gar nicht so einfach. Ihre erste Erwähnung ist uns schon aus dem Jahr 1628 bekannt.
Aber wann genau die Orgel erstmals in der Kirche gespielt wurde, wissen wir nicht. Unsere heutige Orgel bezieht sich mehr oder weniger auf das Instrument von Hinrich Speter. Im Jahre 1641 baute der Orgelbauer eine neue Orgel – vermutlich mit Verwendung der alten Orgel, die links vom Altar stand.
Sehr bald wurden aber schon Reparaturen nötig. So nach und nach in den Jahren 1652, 1654 und 1662 kommen die Renovierungen. Wie auch schon wieder nach 10 Jahren - 1672-1674. Trotz dieser vielen Reparaturen scheint es doch nicht recht gelungen zu sein, die 1641er Orgel wirklich in Ordnung zu bringen. Schon nach 40jährigem Gebrauch wird eine ganz gründliche Überholung und teilweise Erneuerung nötig.
„Ein uns erhaltenes Gutachten des Orgelbauers Reimerius Casparn beleuchtet den trostlosen Zustand, in dem die Orgel sich um 1680 befand. Man hatte aber offensichtlich eine weit umfassendere Bearbeitung der Orgel von vornherein geplant und holt sich einen der bedeutendsten Orgelbauer jener Zeit, Arp Schnitger, der ein Fachmann ersten Ranges und
weithin bekannt war. Er erhält laut Vertrag vom 19. Juni 1681 den Auftrag, die Orgel bestens instandzusetzen. 12 Wochen brauchte Arp Schnitger für die Wiederinstandsetzung der Orgel.“
Arp Schnitger kam in den Jahren 1684 und 1688 nochmals nach Kirchwerder und hat 1694 und 1701 den Orgelprospekt nach seiner Bauart umgeändert in Barock-Ornamentik, goldverziert, wie er noch heute erhalten ist. So hat sich dieser große Orgelbaumeister recht eingehend mit unserer Orgel befasst. Längere Jahre scheint die Orgel danach in befriedigendem Zustand gewesen zu sein.
Nur 1719 und 1734 werden Reparaturen erwähnt. Und 1752 wieder ein Vertrag mit Orgelbauer Johann Dietrich Busch und seinem Sohn. Nach mehreren kleinen Reparaturen durch verschiedene Orgelbauer wurde 1785 anlässlich eines Kirchenumbaues ein Vertrag mit den Orgelbauern Geycke und Wohlien aus Hamburg gemacht, die Orgel auf die neu erbaute Westempore auf den oberen Abschnitt zu verlegen. Gleichzeitig bauten sie die Orgel grundsätzlich um und gestalteten die Rokoko-Teile des noch heute sichtbaren Prospekts.
In den Jahren 1808 und 1831 wurden wichtige Mängel im Inneren der Orgel beseitigt. Ein Plan, im Jahre 1802 die Orgel auf den Frauenchor herabzusenken, scheiterte an den unruhigen Zeiten, herbeigeführt durch die napoleonischen Kriege. Organist Schmahl in Hamburg fertigt ein Gutachten an über die Orgel, die sich in einem traurigen Zustand befindet. Auf Grund dieses Gutachtens beschließt der Kirchenvorstand im Mai 1888, den Orgelumbau bald auszuführen. Der berühmte dänische Orgelbauer Markussen aus Apenrade unternahm 1889 eine größere Reparatur.
Die vorletzte Instandsetzung und Umänderung der Orgel ist 1905 von Paul Rother vorgenommen worden. „Vor allem war es nötig, weil die Chorsänger bei Ausbruch eines Feuers ihren Platz bei der Orgel nur durch einen schmalen Gang, der noch durch den Sitz des Organisten versperrt wurde, verlassen konnten“. 1904 wird im April mit Paul Rother, Hamburg
ein Vertrag über einen endgültigen, durchgreifenden Umbau der Orgel abgeschlossen. Die wesentliche Veränderung dieses Umbaus, der im Jahre 1905 zur Ausführung kam, war die Verlegung des Platzes des Organisten auf den unter der Orgel belegenen Frauenchor, der für diesen Zweck freigemacht wurde.
Auch der Krieg hat die Orgel nicht verschont: 1917 wurden von der Militärbehörde die zinnernen Prospektpfeifen beschlagnahmt, und mehrere Jahre bot sie, die ihres schönsten Schmuckes beraubt war, einen trostlosen Anblick und führte den Kirchgängern die Allgewalt des Krieges recht eindringlich vor Augen.
Im Jahre 1958 baute die Firma Beckerath Hamburg die Orgel so um, wie wir sie heute kennen. Sie hat 20 Register und mehrere alte Register von 1641 und 1785. Was unsere Orgel heute noch erleben wird, zeigt uns die Zeit. Eins ist nur klar: Sie braucht unsere Aufmerksamkeit. Nachdem die Orgel 60 Jahre in Ruhe steht, aber auch mit ganz wenig Sorge, bin ich mir sicher, dass es genau die Zeit ist, etwas zu ändern. So berichtet im Gutachten vom 1. August 2018 der Orgelsachverständige der Evangelisch- Lutherischen Kirche in Norddeutschland, Klaus Schöbel:
„Die Orgel der St. Severini-Kirche gehört in ihrem Kirchraum zum denkmalgeschützten Ensemble von Kunstwerken. Diesem Bild wird sie oberflächlich betrachtet gerecht, beim genauen Hinsehen und Hören wird die Zerrissenheit offenbar. Wie schon bei der Beschreibung von Disposition und Pfeifenwerk, will auch äußerlich einiges nicht in das Bild einer
Barockorgel passen. In das Gehäuse ist ein ehemals moderner Spielapparat hineingebaut worden, der artfremd wirkt, so gar nichts mit dem barocken Orgelgehäuse zu tun haben will. Der historische Kunstschatz hat es aber verdient, schlüssig in seiner Gesamtheit wiederhergestellt zu werden. Denn schon die bis jetzt bekannte Quellenlage bietet eine große
Chance, das Instrument wieder mit dem Klangreichtum auszustatten, der zu ihm gehört. Dabei greifen Äußerlichkeit (Spieltisch) und perfekte Spielart unmittelbar ineinander, und sind nicht getrennt voneinander zu betrachten. […] So werden Äußeres und Inneres sich ergänzen.“
Nach so vielen zahlreichen Bearbeitungen, Reparaturen, Platzwechseln, wodurch im Grunde genommen alles in der Orgel durcheinander ist und mit der Zeit einfach die Zeichen der vergangenen Epochen gestört waren, ist es an der Zeit zu entscheiden: Ob unsere Augen weiter geschlossen werden, während dessen alles in der Orgel gegeneinander weiter gespielt wird, oder ob wir uns bewusst machen werden, dass wir in der Kirche eine „kranke“ Orgel haben, die jeder nach seiner Zeit und Art wieder ins Leben zu bringen versuchte ohne darüber nachzudenken, dass bei der „immer wieder nachgebauten Konstruktion" die Reparaturen irgendwann nicht mehr helfen! … Aber trotzdem – das bleibt unsere Orgel -
vergessene Perle der Barockzeit, die leise uns in die Seele schreit…
In der Zeit vom 13.06. bis ca. 07.07.2019 wurde die Orgel nun für eine genauere Untersuchung auseinander- und danach wieder zusammengebaut und gestimmt. Das Gutachten soll aufzeigen, in welche Richtung eine Reparatur oder gar Restaurierung gehen könnte. Es wurde einiges an Bleifraß sichtbar, mehr als befürchtet, so dass auf jeden Fall etwas passieren muss. Wir werden weiter berichten.
Natalia Uzhvi