Corona und wir "Wir appellieren an die Stärke"


Die Corona-Pandemie hat dieses Jahr sehr geprägt. Was macht das mit unserer Gesellschaft? In einer Reihe wollen wir im Wechsel negative Auswirkungen und positive Begleiterscheinungen aufzeigen. Es geht um die Sollbruchstellen und Lücken, aber auch die Lichtblicke und Brücken, die die gegenwärtige Situation mit sich bringt. Es ist etwas im Wandel, das ist völlig klar. Wir spüren dieser Entwicklung nach. Der dritte Teil handelt von Menschen mit psychischen Krankheiten. 

Gesprächspartnerinnen sind Mitarbeiterinnen des Rauhen Hauses. Die Einrichtung betreut im sozialpsychiatrischen Bereich Menschen mit ganz unterschiedlichen Diagnosen wie Depressionen, Angst- oder Zwangserkrankungen, aber auch Psychosen und Persönlichkeitsstörungen. Susanne Etspüler ist als Regionalleitung des sozialpsychiatrischen Bereiches des Rauhen Hauses tätig. Kristina Haecks und Sirit Schönefeld sind Genesungsbegleiterinnen. Sie arbeiten mit einer festen Anzahl von Menschen und helfen ihnen dabei, einen besseren Umgang mit ihren Erkrankungen und Krisen zu finden. Sie arbeiten ergänzend zu den sonstigen pädagogischen Angeboten, haben selbst bereits psychische Krisen überwunden und eine einjährige Qualifizierung am UKE zur Genesungsbegleiterin erfolgreich abgeschlossen.

Die Corona-Pandemie und die Krise, in der wir uns alle auf unterschiedliche Art und Weise gerade befinden: Wie hat diese sich auf die Betroffenen ausgewirkt, mit denen Sie zusammenarbeiten?
Susanne Etspüler: Da gibt es individuell sehr große Unterschiede. Dass man mit seinen Empfindungen von Isolation nicht allein ist, hat auch etwas Entlastendes für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Denn wir alle haben Ängste, fühlen uns unsicher, wissen nicht, wie es weitergeht und leiden unter den Kontaktbeschränkungen. Es gibt aber auch Menschen, die große Ängste entwickeln, ihre Wohnung zu verlassen. Sie halten sich seit Monaten überwiegend in ihrer Wohnung auf. Bei vielen von ihnen verstärkt sich die depressive Symptomatik dadurch, dass sie zunehmend allein und isoliert sind. Außerdem ist bei vielen die Tagesstruktur zusammengebrochen, das macht es noch schwerer.

Und wie belastend ist die Situation für Menschen mit Krankheitsängsten oder einem Waschzwang?
Kristina Haecks: Ja für diese Menschen ist es besonders belastend, zum Beispiel wenn das Händewaschen den ganzen Tag bestimmt.

Die jetzige Situation verstärkt die Symptome?
Sirit Schönefeld: Mit wachsender Angst werden Zwänge brutaler. Sie haben ja die Funktion, Ängste vermeintlich einzudämmen und irgendwie kontrollieren zu können. Was natürlich in einen Teufelskreis führt. Menschen, die sonst insgesamt vielleicht mit dem Händewaschen eine Stunde pro Tag verbringen, sind dann vier bis fünf Stunden dabei.

 

Hilfe durch Spaziergänge und Struktur

Was unternehmen Sie, um diesen Menschen zu helfen und Menschen mit Depressionen zu entlasten?  
Schönefeld: Wir suchen den Kontakt und gehen mit ihnen spazieren.
Haecks: Und wir appellieren an ihre Stärke.

Leiden immer mehr Menschen an Ängsten und Depressionen?
Etspüler: Die wirklichen Folgen werden wir erst im kommenden Jahr spüren. Es geht derzeit ja allen nicht so gut. Allerdings gibt es auch diejenigen, die wegen ihrer zunehmenden Ängste nicht mehr hinausgehen. Die fühlen sich derzeit zu Hause sicher, aber irgendwann wird es ihnen schwer fallen, ihre Wohnung wieder zu verlassen. 
Schönefeld: Es ist eine große nervliche Belastung, diese Situation allein zu stemmen. Wer sich komplett zurückzieht, dem fehlt auch das Gemeinsame, z.B. Smalltalk und gemeinsames Lachen, sei es auch nur am Telefon.

Faktoren, um mit der eigenen Anspannung umzugehen, fehlen also?
Haecks: Ja, ohne direkten menschlichen Kontakt ist es noch schwerer.
Schönefeld: Menschen, die sich sehr zurückgezogen haben, fällt es schwer, überhaupt wieder einen Schritt vor die Tür zu setzen und wieder auf andere Menschen zuzugehen – weder persönlich noch über das Telefon oder andere Medien. Irgendwann ist das so wie ein selbst geschaffenes Gefängnis.

Gegen die Einsamkeit hilft, dass Sie mit den Menschen spazieren und in den Dialog gehen. Was machen Sie noch?
Haecks: Wir entwickeln Pläne mit ihnen, wie sie ihren Tag zum Beispiel mit Hausarbeiten oder Freizeitaktivitäten strukturieren können.
Schönefeld: Es ist wichtig, nach Ressourcen zu schauen. Was macht Spaß, was sind Hobbys, die man wieder aufleben lassen kann? Ein Mann, den ich betreue, hat zum Beispiel wieder angefangen zu jonglieren, weil er es als Kind sehr gern gemacht hat.


Zur Sache und zu den Personen:

Susanne Etspüler ist als Regionalleitung des sozialpsychiatrischen Bereiches des Rauhen Hauses tätig. Kristina Haecks ist Genesungsbegleiterin im Treffpunkt Wandsbek. Sechs Stunden pro Woche führt sie Gespräche mit psychisch erkrankten Menschen und gestaltet die Begegnungen im Treffpunkt. Außerdem plant sie Ausflüge mit KlientInnen. Sirit Schönefeld ist Genesungsbegleiterin in der Region Mitte. In ihren 20 Wochenstunden führt sie Einzelgespräche und bietet Gruppen zu verschiedenen Themen (z.B. Recovery) und für verschiedene Zielgruppen (z.B. Kinder psychisch erkrankter Eltern) an.

Gemeinsam moderieren sie die Veranstaltungsreihe des Rauhen Hauses zum Thema Zwangserkrankungen: Im Trialog treffen sich Betroffene, Angehörige/Freunde und Fachkräfte zu verschiedene Themen. Es kommen also drei Expertengruppen zu verschiedenen Themen ins Gespräch, die der Erfahrung, die des Miterlebens und die des Wissens. Ziel ist es, ein größeres Verständnis für die Sichtweise der jeweils anderen zu entwickeln.

Das Rauhe Haus betreut im sozialpsychiatrischen Bereich Menschen mit ganz unterschiedlichen Diagnosen wie Depressionen, Angst- oder Zwangserkrankungen, aber auch Psychosen und Persönlichkeitsstörungen. An den verschiedenen Standorten sind es jeweils etwa 100 Menschen, die entweder in eigenen Wohnungen oder Wohngemeinschaften leben und ambulant betreut werden. Meist schließt sich das Angebot des Rauhen Hauses an einen Klinikaufenthalt an. Je nach Krankheitsverlauf variiert die Zeit, in der die Betroffenen von Mitarbeitenden des Rauhen Hauses betreut werden.