Perspektiven auf unsere Gegenwart Wie gehen wir um mit dunklen Gefühlen?


Wie geht es uns angesichts der vielschichtigen Krisen? Was bewegt uns? Trauer und Zukunftsangst, Wut und Ohnmacht treiben Menschen in den gegenwärtigen Zeiten um. Pastorin Melanie Kirschstein über den seelsorgenden Umgang mit diesen Gefühlen. 

So geht es nicht weiter! Das wissen wir. Das macht Angst. Ein Symptom: Die Zahlen der psychischen Krankheiten, Zwangsstörungen, Ängste und Depressionen steigen, besonders auch bei jungen Menschen. Der innerseelische Protest ist leise und weniger offensichtlich als etwa die Aktionen der „Letzten Generation“. Aber das tiefe Gefühl, dass etwas verkehrt läuft, der Schmerz um die Welt, ist da. Wie ein Fluss, wie eine Unterströmung, die stärker wird. Zur Angst kommen Wut und Trauer, Ohnmacht und Ratlosigkeit. Wie gehen wir um mit diesen dunklen Gefühlen?

Alle Stimmungen und Gefühle sind Lebensenergie

Kennen Sie den Seelenvogel? Ich erinnere mich an ein kleines oranges Büchlein, das ich meinen Kindern vorgelesen habe. Da gab es Bilder vom Seelenvogel und seinen Stimmungen. Auf einem Bild war er lustig, lachte und tanzte. Auf einem anderen hingen seine Flügel traurig herab und er weinte. Dann wieder schaute er grimmig, groß und wütend aus. Oder zog sich ängstlich zusammen und war ganz starr und klein. Am Schluss war da ein Bild mit vielen Schubladen – mit Räumen für alle verrückten, gefühlvollen Seelenvögel, die uns bewohnen und unser Leben lebendig machen. Seelsorge heißt, den Seelenvögeln Raum zu geben, den verschiedenen Stimmungen und Gefühlen, die allesamt Lebensenergie sind. Ein Strom, der uns lebendig macht. 

Melanie Kirschstein - Copyright: Hendrik Lüders
Pastorin Melanie Kirschstein

Auch die dunklen Vögel gehören dazu: Trauer, Klage, Wut und Angst. Sie sind Teil unserer Lebenskraft. Wenn wir sie loswerden wollen, schneiden wir uns von wichtigen Lebensadern ab. Trauern und sich trösten lassen ist eine mitmenschliche Kunst, die Nähe schenkt und das Leben tiefer und auf besondere Art reicher macht. Also lassen wir die traurigen Seelenvögel hin und wieder frei fliegen, wenigstens im geschützten Raum. Dann sind sie weniger allein – und wir auch.

Wut ist Veränderungsenergie

Mit den Wutvögeln ist es ebenso. Lassen wir sie ruhig mal auffliegen und schreien. Vielleicht am Meer mit den Möwen oder auf einem Waldspaziergang. Wir müssen sie nicht gleich auf andere loslassen! Erstmal selbst verstehen, was den Seelenvogel im Inneren umtreibt und seine Kraft spüren. Ein ungestörter Raum zu Hause tut es auch. Vielleicht legen Sie Stift und Papier bereit, um zu notieren, was der Wutvogel zu melden hat. Oder auch Farben und einen Malblock. Ein Kissen zum Draufhauen kann gute Dienste leisten. Ein mit Sand gefüllter Luftballon lässt sich gefahrlos an die Wand werfen. Die sogenannte NEIN-Übung ist nützlich, um Wut-Energie aus dem Schlaf der Anpassung zu wecken – und zu befreien. Stampfen Sie kräftig und immer wieder mit den Füßen auf und geben Ihrem NEIN Kraft und Lautstärke. Achtung, nicht so gut für Etagenwohnungen geeignet! Wut ist Veränderungsenergie. 

Ein Achtungsschild: Halt! Stopp! Hier stimmt was nicht! Welche Veränderung dann wirklich sinnvoll ist, verrät die Wut nicht. Dazu braucht es einen kühlen Kopf und ein weites, sehendes Herz – und Geduld, bis die Wut verraucht ist. 

Ein lebensrettendes Gefühl

Schließlich ist auch die Angst ein Seelenvogel, oder eher ein Vögelchen, das versteckt in der Ecke hockt und manchmal panisch aufflattert. Geduld braucht es, ruhigen Zuspruch, einen sicheren Ort, Liebe und Vertrauen! Eigentlich ist Angst ein lebensrettendes Gefühl, weist auf Gefahren hin, die einmal da waren und immer noch rumspuken oder die gesehen werden wollen. Wie die Wut, so ruft auch die Angst uns auf, etwas wahrzunehmen, zu fühlen und zu verändern. 

Menschen brauchen Räume, in denen ihre Seelenvögel frei fliegen und sich mitteilen können. Eine Kirche vielleicht, eine Wanderung unter weitem Himmel, einen Menschen mit Herzohren, eine füreinander sorgende Gemeinschaft, englisch: Caring Community. 

Unsere Seelenvögel brauchen uns – als Beschützer*in, Zuhörende*, Seelsorger*in für andere und auch für uns selbst. Damit sie uns beflügeln, auf ihre Botschaften zu hören und neue heilsame Wege zu finden.

Perspektiven

Dieser Text erschien zuerst in der Print-Veröffentlichung „Perspektiven“, Heft Nr. 34, herausgegeben von den beiden Kirchenkreisen der Evangelischen Kirche Hamburg (Fachstelle „ÄlterWerden“ im Kirchenkreis Hamburg-West/Südholstein und Arbeitsstelle „Leben im Alter“ im Kirchenkreis Hamburg-Ost).