Pascal darf nur drei Sachen mitnehmen. Er weiß nicht, ob und wie er ankommen wird. Er weiß nur, die Reise führt übers Meer. In einem Schlauchboot. Er entscheidet sich, etwas zu essen, zu trinken und sein Erspartes einzupacken. Selbst das Handy lässt er da. Seine Eltern haben ihn losgeschickt, seit Jungen in seinem Alter für die Armee rekrutiert werden. Er hat noch Chancen, vielleicht kann er die Familie nachholen. Pascal macht sich auf den Weg.
Freitag morgen in der Kreuzkirche Stellingen. Deutschland ist die Hölle, aus der man fliehen muss. Geflüchtete aus Syrien, dem Irak, aus Eritrea und Somalia sind die Experten und Guides. Die Klasse 8a des Stellinger Albrecht-Thaer-Gymnasiums erlebt heute in einem Planspiel Flucht einmal andersherum.
Vier Stationen haben sie zu bewältigen: Sie müssen arbeiten, um Geld für die Überfahrt zu verdienen, die Gefahren der Route meistern, sich registrieren lassen, drei Sätze auf Arabisch lernen. Sie hören die Geschichte von Ebaa, 20, einem der Guides. Die Geschichte von der Flucht in einem Boot.
Ursula Schmidt-Paul vom Jugendpfarramt des Kirchenkreises Hamburg-West/Südholstein hat das Projekt entwickelt. Gemeinsam mit Ebaa aus Syrien. Der landete mit 17 nach einer Odyssee über den Libanon und Ägypten, Italien und Frankreich in Hamburg und möchte Kapitän werden. Einen Ausbildungsplatz in Rostock hat er schon. Bereits in seinem Heimatland hat er traumatisierte Kinder und Jugendliche im Auftrag des syrischen roten Kreuzes begleitet.
Ein Zukunftsszenario wird zu Beginn per Video eingespielt. Ein Reporter berichtet, dass in Deutschland nach einem verheerenden Terroranschlag der Ausnahmezustand herrscht. Sitz der zentral gelenkten Regierung ist die Neue Mitte Altona. An den Grenzen zu Frankreich und Polen kämpft das Militär. Die Jungen werden zu Kanonenfutter, die Frauen zu Gebärmaschinen. Die Hoffnung liegt im fiktionalen Land „Al Amar“.
Wer kann, rettet sich. Die 20 Schüler werden in Gruppen aufgeteilt und von jeweils zwei Guides begleitet. Diese haben zuvor ihre persönliche Fluchtgeschichte geschildert und ihre Route auf einer Weltkarte gezeigt. Dann heißt es Schuhe ausziehen, alle bekommen neue Pässe und etwas Spielgeld.
Mohamad, 21, aus Syrien und Temesgen, 24, aus Eritrea leiten die Gruppe zur ersten Station ins Gemeindehaus: Sie müssen Kartoffeln schälen und diese zu Pommes schneiden. Mit den stumpfen Messern ist das schwer. Pascal hat nach fünf Minuten erst eine Kartoffel geschafft. Er ist langsam, seine Hand ist verletzt.
Die Tür geht auf. Der „Baba“ kommt zur Tür herein, gespielt von einem der Guides. Auf Arabisch spricht er mit Mohamad. Seine Stimme wird laut, er ist offensichtlich mit der Leistung unzufrieden. Mohamad fordert die Schülerinnen auf, schneller zu arbeiten. Sonst würde das Geld nicht für die Überfahrt im Schiff reichen.
Er selbst packt mit an, schafft die meisten Kartoffeln. Gelernt habe er das erst auf der Flucht, erzählt er. Zuhause habe immer seine Mutter gekocht. Der Baba kommt wieder, er zahlt die Flüchtlinge aus. Es ist weniger Geld als erwartet. Aber immerhin.
Auf zur nächsten Station. In der Kirche hat Ursula Schmidt-Paul einen kleinen Hindernisparcours aufgebaut. Die Schülerinnen bekommen Schlafmasken aufgesetzt, das simuliert die Dunkelheit der Nacht. Die Route muss geheim bleiben. Sie legen einander die Hände auf die Schultern.
„Man muss seinem Schlepper blind vertrauen“, erklärt Mohamad. Behutsam leiten er und Temesgen die Gruppe durch den Gang die Treppen zum Altarraum hinauf und wieder zurück. Die Schülerinnen tasten sich mit Trippelschritten voran. Manche lachen, andere bringt die Anspannung zum Schweigen.
Dann sind sie angekommen. Ursula Schmidt-Paul wartet als Schlepper am Schlauchboot auf sie. Mohamad überreicht ihr das Geld der Gruppe. Es ist ihr zu wenig. Mohamad rückt noch einen Schein raus. Dann lässt sie alle aufs Boot.
Die Schülerinnen quetschen sich auf die kleine Fläche. Auf die Wand im Hintergrund werden hohe Wellen projiziert. Sie hören Ebbas Stimme, der von seinen Erlebnissen an Bord berichtet. Neun Tage dauerte seine Überfahrt. Er war dabei, wie ein Baby starb, weil Medikamente fehlten. Er erzählt von verfeindeten Gruppen. Die Lage eskalierte, weil nach fünf Tagen das Essen ausgegangen war. Eine Gruppe Flüchtender drohte, das Boot zu kippen. Die Schülerinnen lauschen.
Ankunft in Al Amar. Mohamad verteilt Schleier an die Mädchen. Alle müssen sich registrieren lassen. Am Schreibtisch sitzt ein strenger Beamter. Immer wieder schreit er dasselbe Wort. Ruhe heiße das, übersetzt der Guide. Die Schülerinnen müssen ihren Namen von rechts nach links schreiben und ihren Daumen zu erst in Stempelfarbe und dann auf eine Liste drücken. Als die Registrierung abgeschlossen ist, geht es zum Sprachkurs.
Drei Sätze müssen sie sagen und schreiben können: Wie sie heißen, dass sie aus Deutschland kommen und Asyl beantragen wollen. Pascal sucht seinen Anfangsbuchstaben im arabischen Alphabet – ohne Erfolg. Mohamad zeigt ihm ein B, damit sein Name annähernd richtig klingt. Langsam, wie bei einem Erstklässler, finden die Worte ihren Weg aufs Papier. Der Guide kontrolliert die Ergebnisse.
Dann ist es geschafft. Sie sind angekommen, etwas Neues beginnt. Nach zweieinhalb Stunden treffen sich alle wieder im Gemeindehaus zur Auswertung und für ein Gruppenfoto. Die Mädchen behalten ihre Hidschabs noch einen Moment an. Lehrer Jörn Marciniak hatte es den Schülerinnen freigestellt, aus dem Spiel auszusteigen, wenn es zu bedrängend wird. Alle sind dabei geblieben.
Bei der abschließenden Gesprächsrunde zeigen sie sich Schülerinnen beeindruckt. Emma sagt, sei ihr schwer gefallen, den Hidschab zu tragen als Ausdruck einer Religion, die nicht ihre ist. Mohamad sagt, die Flucht in ein Erlebnisspiel umzuformen, sei eine gute Idee: „Wir können ein bisschen vermitteln, was wir erlebt haben.“
Pascal zieht sich wieder seine Schuhe an. Er sagt, er könne nun etwas besser nachempfinden, wie schwer der Weg gewesen sein muss. Und wie ausgeliefert man sich fühlt in einem fremden Land mit einer unbekannten Sprache: „Unvorstellbar, was sie alles durchmachen mussten.“