Perspektiven auf unsere Gegenwart Über die Kunst, sich verschieden sein zu lassen


Das Denken, Fühlen und Handeln einer jeden Person sind einzigartig. Gleichsam vielschichtig sind die daraus resultierenden Sichtweisen. Pastor Jochen Weber über die Frage, wie wir in Streitsituationen miteinander umgehen können. 

Jeder Mensch ist einzigartig, unverwechselbar. Das zeichnet uns alle aus. In der Technik machen wir uns dies zu Nutze durch Gesichtserkennung oder den digitalen Fingerabdruck. Doch nicht nur dies ist bei jeder/jedem unterschiedlich, auch unser Denken, Fühlen und Handeln ist es. Und das ist gut, bietet es doch so eine riesen Bandbreite an Sichtweisen auf ein und dasselbe Ereignis. Zugleich lässt es uns aber auch immer wieder anecken, in der Familie, im Freundes- oder Kolleg*innenkreis, in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Streit ist also vorprogrammiert … 

Wenn konträre Meinungen aufeinanderkrachen

Und je unruhiger die Zeiten sind, umso häufiger klaffen Meinungen auseinander. Corona war so ein Beispiel. War es eine Bedrohung oder das Eingerede Einzelner? Wir haben die Diskussionen erlebt. Und derzeit: Wie umgehen mit den Kriegen in der Ukraine und im Gazastreifen? Darf oder muss man Waffen liefern oder auf keinen Fall? Jede*r hat dazu eine Meinung. Oft sehr konträr. Viele solcher Fragen spalten Familien und Freund*innen. Zu unterschiedlich und unversöhnlich sind die Sichtweisen. In jeder Partnerschaft kennen wir Situationen, in denen wir anecken, weil wir Dinge anders sehen und beurteilen. Mag sein, dass wir in einer größeren Gesellschaft einander aus dem Weg gehen können, uns anderen Meinungen nicht auszusetzen brauchen oder wollen. Im Kleinen klappt das nicht. Umso heftiger ist dann der Knall, wenn die konträren Meinungen aufeinanderkrachen oder unerträglich „laut“ das sich Anschweigen und aus dem Weg gehen.

Jochen Weber - Copyright: Lichtliebe Volksdorf
Pastor Jochen Weber

Wir alle sind Geschöpfe, gleich wichtig, gleich geliebt

Wie können wir in Streitsituationen miteinander umgehen? Wie können wir einen Weg finden, ohne dass sich eine*r als Verlierer*in fühlt? Sich aus dem Weg gehen hilft nicht. Wir brauchen eine Gesprächskultur, dass wir auch im Extremen nicht aufhören, miteinander zu reden und uns zuzuhören. Hilfreich, aber unendlich schwierig ist es, die verschiedenen Ebenen in einem Streit voneinander zu trennen. Eine Info auf der Sachebene sagt zunächst nichts über mich als Person aus. Nicht alles Gesagte fordert von mir unmittelbar etwas. Und wir tun gut daran, nicht alles auf uns zu beziehen. Wie geht es mir mit dem Gehörten? Was löst es in mir aus, ist es berechtigt oder unberechtigt? Leuchtet es ein oder es unverständlich? Manches triggert mich an und bringt mich auf die Palme, ohne dass das Gegenüber dies beabsichtigt hat. 

Manchmal helfen Rückfragen, ob man es auch richtig verstanden hat. Wir alle sind Individuen – die Bibel nennt uns Ebenbilder Gottes. Keine*r ist wie Gott, aber wir alle, so unterschiedlich wir auch sind, sind Spiegelbilder Gottes und von ihm geliebt. Wir alle sind Geschöpfe, gleich wichtig, gleich geliebt. Und, in seinen Augen, sehr gut! Lasst uns so einander neu sehen, auch im Streit: mit Gottes Augen.

Es geht um den gemeinsamen Erkenntnisgewinn

Sachlich im Gespräch miteinander streiten bringt uns nach vorne und nicht per se auseinander. Eine andere Meinung sagt nichts über mich als Person aus, macht nur meine Sicht deutlich. Es ist keine Niederlage, wenn ich meine Meinung korrigiere und es ist kein persönlicher Gewinn, wenn ich mein Gegenüber zu einer neuen Sicht bewegen kann. Es geht nicht ums Gewinnen oder Verlieren, sondern um gemeinsamen Erkenntnisgewinn, weil wir durch unsere konträren Blickwinkel etwas ganz neu betrachten können, verschiedene Richtungen und Möglichkeiten wahrnehmen und ausloten können. Freilich gehört zu einer solchen Streitkultur auch die Beweglichkeit dazu, manchmal auch über den eigenen Schatten springen zu können. Ich darf mich verändern, darf Fehler und Schuld eingestehen und aus der Vergebung leben und handeln. Das ist Gottes Blick auf mich, auf uns. 

Manchmal gibt es keine Einigung

Allerdings gibt es auch Situationen, in denen kein Kompromiss zu finden ist, weil es um unsere Grundfeste, unsere Werte und Normen geht und die Sichtweisen so konträr und unvereinbar sind. Sich hier in seiner Unterschiedlichkeit auch sein lassen zu können, im Wissen, in diesem Punkt gibt es keine Einigung, ist nicht leicht und bleibt eine Herausforderung. Innerhalb einer engen Beziehung bei sehr existenziellen Themen schwierig, aber in größeren Kontexten ist das Wissen und Akzeptieren dessen, dass man in diesen oder jenem Punkt ganz anders denkt und sich nicht einigen kann, durchaus möglich und auch eine Art Einigung, mit der man dennoch auf vieles andere schauen und darüber weiter diskutieren und streiten kann.

Perspektiven

Dieser Text erschien zuerst in der Print-Veröffentlichung „Perspektiven“, Heft Nr. 34, herausgegeben von den beiden Kirchenkreisen der Evangelischen Kirche Hamburg (Fachstelle „ÄlterWerden“ im Kirchenkreis Hamburg-West/Südholstein und Arbeitsstelle „Leben im Alter“ im Kirchenkreis Hamburg-Ost).