Wie gehen die ChorleiterInnen mit der aktuellen Situation um?
Christiane Hrasky: Für die Chorleiter ist es eine sehr anstrengende Situation. Die wenigsten haben einen so großen Raum, dass sie den ganzen Chor mit den Abstandreglungen unterbringen können. Proben mit 15 oder 20 Teilnehmern, in mehreren Schichten und dann lüften – jeder geht anders mit der Situation unter Einhaltung der Hygieneregeln um.
Und wie steht es um das Singen im Gottesdienst?
Die Empfehlung lautet, gar nicht zu singen. Und wenn, dann mit Maske und nicht so laut. Das wird sehr unterschiedlich gehandhabt. Manche stellen sich auch vor die Kirche, um zu singen.
Gemeinschaftliches Singen im Chor oder Gottesdienst hebt die Stimmung und stärkt das Gemeinschaftsgefühl: Welche Effekte können Sie noch benennen?
Die soziale Bindung und das Zugehörigkeitsgefühl sind wichtig. Aber es gibt auch wissenschaftliche Untersuchungen, die belegen, wie gesund singen ist. Es werden Oxytocin und Dopamin ausgeschüttet. Singen fördert so psychisches Wohlbefinden und stärkt die Bindungsfähigkeit. Außerdem wird Immunglobin A ausgeschüttet, das das Immunsystem stärkt. Daran sieht man, wie bedauerlich es allein auf der gesundheitlichen Ebene ist, dass man derzeit nicht singen darf. Dazu kommen Effekte wie die Stärkung der Lunge oder die Artikulationsförderung speziell bei Kindern.
Wie geht es GottesdienstbesucherInnen und ChorsängerInnen, wenn diese Effekte auf einmal wegfallen wie in den Zeiten des Lockdowns der Corona-Pandemie?
Die Menschen gehen unterschiedlich damit um. Manche haben ein so starkes soziales Umfeld, in dem das Chorsingen eine Gelegenheit von vielen ist. Bei anderen Menschen ist es aber der zentrale Höhepunkt der Woche, der dann wegfällt. Und das ist ein riesiges Problem. Und dann leidet natürlich auch die Singmuskulatur. Singen ist ja ein muskulärer Akt. Die Singmuskulatur bildet sich relativ schnell zurück. Je älter man wird, desto schneller. Singpausen merkt man da recht deutlich. Die Muskulatur kommt wieder, aber das braucht dann wirklich etwas Anlauf.
Der Gesang hat für den evangelischen Gottesdienst eine immense Bedeutung: Ist durch Corona hier nun eine Lücke entstanden?
Luther hat ja gesagt, wer singt, der betet doppelt, und hat das Singen als einen evangelischen Glaubenspfeiler bei uns eingepflanzt. Singen gehört einfach dazu. Es ist zudem ein starker sinnlicher Ausdruck. Wenn man im Gottesdienst singt, ist man nicht nur mit dem Kopf beteiligt, sondern mit dem ganzen Körper und das ist etwas, was sehr fehlt derzeit. Es geben sich alle Mühe, das zu kompensieren, aber es aus meiner Sicht ist es eine Lücke, die man nicht füllen kann.
Hat das Singen an Bedeutungszuwachs durch Corona bekommen? Merken Menschen jetzt erst, wie wichtig es ihnen eigentlich ist?
Ja, das höre ich überall. Im Gottesdienst ist es sehr gravierend. Bei manchen war es ja immer schon ein eher ungeliebtes Kind. Und es gibt bestimmt auch Leute, die sagen, ‚das müssen wir nicht wieder einführen’ (lacht). Aber der Großteil merkt doch ganz deutlich, wie schön das eigentlich ist, was vorher so selbstverständlich war.
Was ist Singen überhaupt? Ganz offen gefragt…
Im Gottesdienst ist es ein Glaubensakt. Und ja, es ist ein künstlerischer Ausdruck, aber zuallererst ist Singen eine natürliche Lebensäußerung. Es ist etwas Naturgegebenes, das sieht man daran, dass Kinder schon sehr früh beim Spielen vor sich hin singen. Singen ist ein komplexer körperlicher und seelischer Vorgang, der beide Ebenen auch miteinander verbindet. Es gibt eine ganz interessante Untersuchung aus der Hirnforschung: Singen und Angst besetzen das gleiche Hirnareal. Man kann nur eines von beidem zurzeit. Man kann nur singen ODER Angst haben.
Singen vertreibt also Angst?
Um keine zu Angst zu haben im dunklen Keller, kann man singen. Gleichzeitig versagt die Stimme, wenn man Angst hat. Singen ist aber unabhängig von der Angst ein Gefühlsverstärker in alle Richtungen, bei Hochzeiten hebt es die Freude und bei Trauerfeiern verstärkt es die Trauer um die verlorene Person oder die Angst vor dem Tod. Wenn man traurig ist, legt man ein trauriges Lied auf, und ist noch trauriger. Man kann aber auch mal mitschmettern und dann geht es einem besser.
Sie ermutigen also dazu, häufiger allein zu singen?
Ja, aber das macht ja leider kaum noch jemand. Singen ist aber auch vor allem gemeinschaftsbildend. Und zwar fast nicht vergleichbar mit anderem, höchstens mit dem Fußball (lacht). Dieses Beisammensein und dass man gemeinsam etwas aufbaut und voranbringen will und das in sehr großen Gruppen, dem wohnt eine gewisse Einzigartigkeit inne.
Es gibt derzeit wegen der Pandemie viele digitale Gesangsprojekte. Ist das ein guter Ersatz Ihrer Meinung nach?
Ganz am Anfang schossen die digitalen Proben aus dem Boden. Da man nicht wusste, wie lange es geht, hat man versucht das Normale weiterzuführen. Aber die Technik macht ein gleichzeitiges Singen nicht möglich. Dann gab es Chorvideos: Jeder singt zu Hause seine Stimme ein und das wird dann zusammengeschnitten. Es gab und gibt sehr viele Hilfsangebote wie Stimmbildung fürs Üben zu Hause. Viele Chöre haben sich auch über Chat getroffen, aber es ist einfach kein Ersatz für ein Liveerlebnis. Aber es hat uns auch viele Möglichkeiten eröffnet. Dafür bin ich dankbar, da ich allein aus Zeitgründen sonst niemals in das digitale Feld so eingestiegen wäre.
Zur Person: Christiane Hrasky ist Leiterin des Chorwerkes der Nordkirche. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich damit, wie sich Chöre demografisch entwickeln und welche Formate entstehen. Darüber hinaus unterstützt sie Chöre zum Beispiel mit Notenausgaben. Chorische Stimmbildung ist eines ihrer großen Arbeitsfelder. Bei einer Reise durch die Kantoreien der Nordkirche im Jahre 2019 nahmen 1.400 Menschen insgesamt an ihren Kursen zu Stimmbildung teil. Sie bestückt Newsletter für Chorsänger und -leiter und hat einen Youtube-Kanal. Angesichts der Corona-Pandemie bietet sie digitale Mitsing-Projekte an. Eine neue Reihe an Videos dreht sich um die Stimmbildung für SängerInnen im Alter über 60 Jahre. Christiane Hrasky ist ausgebildete Kirchenmusikerin, arbeitete zehn Jahre lang in der Gemeinde Hamburg-Altona. Sie absolvierte einen Masterstudiengang in Chorleitung. Nachdem sie in Hamburg-Niendorf die Singschule in Vertretung geleitet, wurde sie Landeskantorin des evangelischen Chorverbandes Niedersachen Bremen. Die aktuelle Position ist ihre – wie Hrasky sagt – „Traumstelle“.