Annika Morgenstern war 15, als der Arzt bei ihrer Mutter Demenz diagnostizierte. „Umso mehr von ihr verschwunden ist, um so mehr bin ich eingesprungen“, erinnert sich Morgenstern. „Ich wurde zu ihrer Mutter.“
Annika war mit ihrer Situation weitgehend alleine, ihre Eltern leben getrennt. In der Schule wusste nur eine Lehrerin um ihre Lebensumstände. Tipps zum Umgang mit Demenz besorgte sie sich aus dem Netz.
Rund drei Jahre pflegte sie ihre Mutter, bis diese in ein Heim zog und sie nicht mehr konnte vor Erschöpfung. Eine Psychotherapie rettete Annika Morgenstern. „Ohne das geht es nicht“, sagt sie. Heute lebt sie in einer WG – und ist auch dankbar für die gemeinsame Zeit: „Es ist schön, etwas machen zu können“. Unten auf der Seite finden Sie: die Geschichten von Annika Morgenstern und Lorena Vynmeister sowie Links zum Thema
Ein Thema im Dunkel
Jugendliche, die Familienangehörige pflegen: ein ernstes Thema, eins das in der Öffentlichkeit wenig präsent ist. Vielleicht auch, weil es nicht zu unserem Bild vom Sozialstaat passt?
Dem Verein „wir pflegen“ ist es zu verdanken, dass das Thema langsam in der Öffentlichkeit ankommt. Er vertritt die Interessen pflegender Angehöriger und hat die Arbeitsgruppe „JUMP - Junge Menschen mit Pflegeverantwortung“ gegründet.
Im Juni kamen Experten und Interessierte aus verschiedenen Tätigkeitsbereichen zu einem ersten Fachtag in Hamburg zusammen. Sie wollen die Arbeit am 26. September fortsetzen.
Steigende Tendenz
Wie viele Kinder und Jugendliche Eltern pflegen oder diese bei der Pflege von Oma und Opa unterstützen – dazu liegen keine gesicherten Zahlen vor. Experten schätzen, dass bundesweit 225.000 Kinder und Jugendliche betroffen sind, mit steigender Tendenz.
Denn immer noch ist „die Familie der größte informelle Pflegedienst“, sagt die Hamburger Gesundheitswissenschaftlerin Corinna Petersen-Ewert. Die Hauptarbeit leisten Frauen.
Doch das Modell wankt, weil immer mehr von ihnen erwerbstätig sind. So springen auch Söhne und Töchter ein, etwa bei der Pflege der Großeltern.
Jugendliche reden nicht gerne darüber
Was eine mögliche Unterstützung erschwert: Kinder und Jugendliche erzählen anderen, etwa Lehrern, nur selten von ihrer Situation zuhause. Sie haben Angst, dass die Familie auseinandergerissen wird, weil die Eltern ihre Rolle nicht mehr erfüllen können.
Außerdem erkennen sie ihre Lage häufig nicht als ungewöhnlich. „Für sie ist es normaler Alltag“, sagt Hanneli Döhner. Die Sozialgerontologin hat den Verein „wir pflegen“ initiiert und leitet die AG JUMP.
Was den Jugendlichen fehlt, sind Freiräume zum Durchatmen. Der Austausch mit anderen, die in einer ähnlichen Situation sind. Die Zeit für Hobbies und Freunde. „Es kommt auf die Balance an“, sagt Döhner. Und auch rechtlich muss sich einiges ändern – etwa beim Bafög – damit Pflegende im Studium nicht benachteiligt sind.
Nicht nur negativ
Anders sieht es in Schottland aus: Dort sind die Rechte junger Pflegender in einer Charta festgehalten und Berater an Schulen und Universitäten mit ihrer Lage vertraut. „Young Carers“ kommen einmal im Jahr zu einem Festival zusammen. Die Ministerpräsidentin Schottlands grüßt dann per Video-Botschaft.
Die Pflege von Angehörigen hat nämlich auch positive Aspekte, darin sind sich die Experten einig. Sie stärkt soziale Fähigkeiten und das Gefühl, etwas bewirken zu können.
Lorena Vynmeister, 20, hat ihre Mutter bei der Pflege der Großmutter unterstützt. Eingeschränkt gefühlt habe sie sich dadurch nicht: „Erst viel später habe ich realisiert, dass es gar nicht so normal war, wie ich immer dachte.“ Die Erfahrung in der Familie prägte jedoch ihren Berufswunsch: Sie lässt sich zur Altenpflegerin ausbilden.
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Meine Großmutter litt unter Parkinson. Sie lebte bei uns im Haus. Meine Mutter hat die Hauptlast für die Pflege getragen. Als ich alt genug war, habe ich sie unterstützt.
Das war für mich selbstverständlich. Meine Aufgabe bestand vor allem darin, meine Oma abends ins Bett zu bringen. Erst als die Belastung für meine Mutter zu groß wurde und sie einen Hörsturz hatte, kam ein Pflegedienst zu uns ins Haus.
Meine Oma war wie eine zweite Mutter für mich. Ich bin dankbar für das, was ich mit ihr erleben durfte. Und wir hatten viel Spaß miteinander! Ich habe nichts vermisst. Ich hatte trotzdem meine Freunde und meine Hobbies.
Trotzdem finde ich es wichtig, dass junge Pflegende mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Unterstützung bekommen. Denn nicht bei allen läuft es so gut wie bei mir. Dass ich für meine Großmutter da sein konnte, hat meinen Berufsweg beeinflusst: Ich lasse mich zur Altenpflegerin ausbilden.
Lorena Vynmeister, 20, aus Hamburg
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Ich war 15, als der Arzt bei meiner Mutter Demenz diagnostizierte. Sie war damals 48 Jahre alt. Am Anfang hat sie noch versucht, die Symptome zu verstecken. Ich musste sie kontrollieren, ohne dass sie das mitbekam. Je mehr von ihr verschwand, desto mehr sprang ich ein. Ich wurde zu ihrer Mutter.
Meine Eltern hatten sich sechs Monate vor der Diagnose getrennt. In der Schule wusste nur eine Lehrerin von meiner Lebenssituation. Ich hatte schon damals viele gute Freunde. Bei ihnen konnte ich mich wenigstens ausheulen. Es gab sonst niemanden, der mich auf dem Weg begleitete.
Obwohl ich ein gutes Zeugnis hatte, ging ich nach der zehnten Klasse ab und begann eine Ausbildung bei der Arbeitsagentur.
Im Laufe der Zeit fand meine Mutter sich immer weniger zurecht. Ich verließ das Haus nur, wenn sie schlief. Was die Krankheit bedeutet und wie man mit ihr umgeht, googelte ich.
Ich stand permanent unter Spannung. War schrecklich müde. Irgendwann konnte ich nicht mehr. Zum Glück fand ich eine Psychotherapeutin, die mich begleitete. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft.
Als ich 18 war, wurde meine Mutter pflegebedürftig. Heute lebt sie in einem Heim, in dem sie sich wohlfühlt – und ich in einer WG. Ich besuche sie mehrmals in der Woche.
Für mich war es wichtig und schön, für meine Mutter da zu sein. Ich habe nicht das Gefühl, meine Jugend verpasst zu haben. Denn ich war schon mit 13 häufig auf Partys. Aber ich möchte, dass andere in meiner Situation erfahren, dass sie nicht alleine sind.
Von meinem Wunsch das Abi nachzuholen, habe ich mich inzwischen verabschiedet. Aber nicht von meinem Traum, für eine Zeit in den USA zu leben. Wenn ich das Geld zusammen habe, werde ich dorthin aufbrechen. Erstmal für drei Wochen. Aber das ist immerhin ein Anfang!
Annika Morgenstern, 22, aus Dannenberg