20 Jahre Maueröffnung - Gedenkgottesdienst Lesung und Predigten der Bischöfe in Zarrentin (Auswahl)

Landesbischof Andreas von Maltzahn, Schwerin, sagte in seiner Ansprache, die Bezug zur biblischen Lesung aus dem Buch Josua nahm: „Es ist dieselbe beglückende, erschütternde Erfahrung – bei Josua wie in der friedlichen Revolution: Der Fluss des scheinbar Unabänderlichen kann angehalten werden. Menschen bleiben nicht länger blockiert. Sie gehen hinüber in ein neues Land – Land, auf dem Verheißung liegt. Das ist möglich – gegen alle gängige Erfahrung.

 

1989: Ein Volk, das geübt und niedergehalten war in Anpassung – dieses Volk richtet sich auf und lebt den Traum der Befreiung. Die einen füllen westliche Botschaften, die anderen die Kirchen. In einem Land, in dem alles „seinen sozialistischen Gang ging“, in dem das geflügelte Wort galt „Lieber zehn Fehler mitmachen, als einen allein“ – in diesem Land nahmen Menschen ihr Herz in beide Hände, übernahmen Verantwortung und zeigten der allmächtigen Partei: „Wir wollen nicht mehr so weiter leben!“

 

Eine Zeit aufblühender Träume war das damals – zum Beispiel, einen dritten Weg entwickeln zu können jenseits der ausgetretenen Pfade von Sozialismus und Kapitalismus. Und es war eine Zeit der Hoffnung auf nicht weniger als die Verwandlung des Lebens. Zeit der Hoffnung, nicht des Optimismus – wie Vaclav Havel zu recht sagt: „Hoffnung ist eben nicht Optimismus. Es ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.“

 

Nein, wir wussten nicht, wie alles ausgehen würde. Der Beifall der Politbürokraten für das Massaker auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ hallte in uns nach. Und so erinnere ich, als wäre es heute, mein Bangen am 9.Oktober um die Leipziger Demonstranten. Meine Schwester war unter ihnen. Betriebe in der Innenstadt hatten Order, ihre Angestellten früher nach Haus zu schicken. Kampfgruppen und Bereitschaftspolizei waren zusammengezogen worden. Gerüchte machten die Runde von Vorbereitungen in den Krankenhäusern, den erwarteten Strom der Verwundeten aufzunehmen. Welch eine Erleichterung, dann im Radio zu hören: 70.000 Menschen ziehen um den Ring, und alles ist friedlich! Gott sei Dank! Was für eine Erfahrung: Der Geist der Bergpredigt war übergesprungen auf eine Bewegung, die sich selbst und anderen zurief: „Keine Gewalt!“ Auf alles war der Staatsapparat mit Lagern und Repressalien vorbereitet gewesen, aber nicht auf Kerzen und Gebete. „Vom Herrn ist’s geschehen und ein Wunder vor unseren Augen.“ (Ps 118,3)

 

Und dann fiel die Mauer. Ich entsinne den Morgen danach, im Radio die überglücklichen Menschen hüben wie drüben, Menschen, die sich zumindest für eine Nacht als Brüder und Schwestern erlebten. Meine Tränen flossen an diesem Morgen, denn mir war, als würde ein unsichtbares, bleiernes Kleid von mir genommen, eine Last, die ich wohl oft nicht bewusst wahrgenommen, aber ein Leben lang mitgeschleppt hatte. In der Erleichterung dieses Morgens spürte ich:

• Es würde vorbei sein damit, dass Lehrer Kinder in der 2.Klasse aufstehen ließen, um sie wegen ihres Glaubens an Gott von den Mitschülern auslachen zu lassen.

• Es würde ein Ende haben mit der Schizophrenie der Erziehung, dass Eltern ihren Kindern beibrachten: „Wir denken so, aber in der Schule musst du so und so sagen.“

• Echte Wehrdienstverweigerung würde möglich werden und nicht länger mit zwei Jahren Knast bestraft werden.

• Niemand würde mehr Angst haben müssen, als Flüchtling erschossen zu werden oder in jahrelanger Haft Schaden an Leib und Seele zu nehmen.

• Es würde vorbei sein mit der Bespitzelung eines ganzen Volkes und dem Verbiegen von Menschen.

Was für eine Erleichterung, das bleierne Kleid der Unfreiheit nicht mehr tragen zu müssen!

 

Schwestern und Brüder, das Psalmwort „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“ (Ps 18, 30b) – es hat einen neuen Klang für uns bekommen. Es ist bleibende Erfahrung unseres Lebens: Der Fluss des scheinbar Unabänderlichen kann angehalten werden. Ungeahnte Möglichkeiten tun sich auf. Menschen brechen auf zu neuen Ufern, die unerreichbar waren.

 

Erzbischof Werner Thissen (Hamburg): „Die Mauer ist weg. Es herrscht Freiheit - Freiheit der Meinungsäußerung, freie Religionsausübung, Reisefreiheit, Pressefreiheit. Das ist so etwas Großartiges, das müssen wir uns immer wieder neu bewusst machen und nicht durch die Beschwernisse des Alltags in Vergessenheit geraten lassen. Und deshalb nehme ich auch die ehemalige Grenze bei meinen Fahrten nach Mecklenburg immer wieder wach wahr und ich merke dann auch, wie sehr sich Dank und Freude verbinden, dass dort nur noch ein Schild ist und kein Grenzzaun und keine Grenzwächter, die unter Umständen auf Menschen schießen, die die Grenze überqueren.“

 

Bischof Hans-Jürgen Abromeit (Greifswald) sagte vor Beginn des Gottesdienstes zur Bedeutung des Tages: „Der 9. November 1989, der Tag der Maueröffnung, ist für mich unvergesslich. Ich sah damals die Pressekonferenz, bei der Günter Schabowski die Möglichkeit der Reisefreiheit verkündete, und konnte nicht glauben, was ich hörte. Die Mauer war durchlässig geworden. Die friedliche Revolution in der DDR hatte mit Gebet und Kerzen ein wichtiges Ziel erreicht. Die Machthaber mussten sich dem Willen des Volkes beugen. Mir war sofort klar: Es wird wieder ein Deutschland entstehen. Für diesen mutigen Einsatz hätten die Akteure von damals den Friedensnobelpreis verdient. Für mich ist die friedliche Revolution 1989 ein Wunder, dem ich zugeschaut habe.“

 

(epd)