Den Koffer hat ihm seine Großmutter hinterlassen. Jahrzehnte kann Rosenberg ihn nicht anrühren. Einmal, 1962, am Tag seiner Verlobung schaut er ihn an und „vergisst“ ihn dann wieder. Er heiratet, gründet eine Familie, hat Freunde, ist beruflich erfolgreich und glücklich mit seiner Frau – der Koffer steht die ganzen Jahre über im Keller.
Mit Beginn der Pensionierung 1992 beginnt Rosenberg, die Briefe und Dokumente zu lesen, die seine Großmutter Martha zwischen 1938 und 1944 gesammelt hat. Was er erfährt, belastet ihn jedoch so stark, dass er nur in der Familie darüber reden kann: „Ich habe Einblick erhalten in die furchtbaren Qualen meiner Mutter und meiner Familie.“
Ein Kollege erzählt von einer Reise nach Minsk
Warum er den Koffer jetzt öffentlich machte, hängt mit einem Zufall zusammen: Bernd Schröder, Rosenbergs ehemaliger Kollege bei der Lufthansa, berichtete bei einem vorweihnachtlichen Treffen 2014 von einer Fahrt nach Minsk, die er mit seiner Kirchengemeinde Altona-Ost und anderen im Juni des Jahres unternommen hatte.
Dort wurde der Grundstein für eine Gedenkstätte gelegt. Diese erinnert an die rund 200.000 Juden, die ab 1941 in Minsk und Umgebung ermordet wurden. Unter ihnen auch etwa 1.500 Juden und Jüdinnen aus Hamburg, wie Rosenbergs Mutter Irmgard. Als Bernd Schröder seinem Ex-Kollegen Michael von der Reise erzählt, weiß er nicht, welch starke Verbindung dieser zu Minsk hat.
Ein Zeugnis von Liebe und Mut
Rosenberg wird 1934 geboren. Nach der Scheidung von seinem Vater Theo heiratet Irmgard ein zweites Mal. Kurz vor der Deportation bittet sie ihre ehemalige nicht-jüdische Schwiegermutter Martha um Hilfe. Diese möge von Frankfurt nach Hamburg ziehen, um ihren Enkel Michael aufzuziehen. Die Antwort Marthas ist ein Zeugnis von Liebe und Mut: „Deine Bitte, nach Hamburg zu kommen, muss und werde ich erfüllen...Dein Sohn wird in guten Händen sein.“
Am Abend vor der Deportation müssen sich die Juden an der Moorweide nahe des Dammtorbahnhofs einfinden. Michael will seine Mutter noch einmal sehen und drängt seinen Vater dorthin zu gehen: „Ich habe keine Ruhe gegeben. Das waren von unserer Wohnung ja nur zehn Minuten. Stockfinstre Nacht. Ich habe nur eine Masse Menschen gesehen. Mit Gepäck, wie auf einem überfüllten Bahnsteig. Meine Mutter habe ich nicht gefunden.“
Fünf Jahre nach der Deportation erfährt Rosenberg von seinem Vater, dass die Mutter tot ist. Auch sein Stiefvater ist Jude, wird deportiert und ermordet.
Rosenberg fühlt sich befreit
Mit seiner Großmutter, dem Vater und dessen neuer Familie wächst Rosenberg in Hamburg auf. „Noch viele Jahre empfand ich mein Schicksal als Schmach und großes Unrecht. Ich fragte mich immer wieder: Was habe ich getan?“
Für die KZ-Gedenkstätte Neuengamme hat Rosenberg in einem langen Videointerview von seinem Leben erzählt. „Das war schmerzhaft, aber gleichzeitig auch beglückend“, erinnert er sich. Die Anteilnahme der vier Interviewer habe sein Herz erwärmt und erleichtert. Anfang Oktober dann übergab er den alten Lederkoffer an die Gedenkstätte.
Rosenberg fühlt sich von einer großen Last befreit. Und er ist dem Zufall dankbar: „Wäre auf dem Treffen mit meinem ehemaligen Kollegen Bernd Schröder nicht das Wort ,Minsk’ gefallen, wäre alles so geblieben wie es war. Der Inhalt des Koffers hat mir die Wahrheit meiner Kindheit erzählt.“
Gedenken in Altona zum Jahrestag der Ausweisung jüdischer Nachbarn
Zeit: Mittwoch 28. Oktober, 16 Uhr
Ort: Treffen am Gedenkstein auf dem Paul-Nevermann-Platz/Bahnhof Altona am Durchgang zum Platz der Republik, danach Gang zum Bahnsteig, wo die Deportation begann
Mit Propst Thomas Drope, Kirchenkreis Hamburg-West/Südholstein, Dr. Liane Melzer, Bezirksamtsleiterin Altona, Dr. Miriam Rürup, Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, Pastor Ulrich Hentschel, Evangelische Akademie, und Petra Ritschel, Klarinette