Frau Daum, wer kommt zu Ihnen in die Kurberatung?
Andrea Daum: Alle. Das kann eine Abteilungsleiterin sein, eine Selbstständige, eine Hausfrau oder eine Arbeitssuchende.
Inwiefern wirkt sich die Corona-Pandemie samt ihren Maßnahmen auf die Eltern aus? Was ist Ihr Eindruck?
Wenn es schon immer viele Menschen gab, die kurbedüftig waren, dann sind es jetzt fast alle. Das merke ich an den Zahlen der Anfragen und daran, dass der Anteil der Lebensberatung und Seelsorge in der Beratung wächst. Die Menschen können wirklich nicht mehr. Das hat schon dramatische Züge. Auch den Kindern geht es wesentlich schlechter. Wenn es einer Mutter schlecht geht, wirkt sich das auch auf die Kinder aus. Wir sollten unsere Mutterrolle ausüben können. Aber wenn wir am Ende unserer Kräfte sind, schaffen wir es nicht. In einer Kur können wir Hilfe und Unterstützung bekommen, um eine Perspektive zu entwickeln. Drei Wochen sind nicht die Welt, aber sie verhelfen zu einem Schritt in die richtige Richtung.
Was für Angebote gibt es in einer Kur?
Zum einen physiotherapeutische Angebote wie Bäder und Massagen, und Sport. Aber auch Entspannungstraining wie autogenes Training, Yoga oder Tai Chi. Gruppen und Einzelgespräche, in denen es um Erziehungsthemen aber auch Themen geht, die sonst im Alltag verdrängt werden. Ernährungsberatung ist immer mit dabei. Kreative Angebote, bei denen es darum geht, zur Ruhe zu kommen und die Gedanken laufen zu lassen. Viele entdecken dann ihre Kreativität und Talente wieder, die sie vor ihrer Zeit als Mutter gepflegt haben. Vormittags sind die Kinder in Betreuung, nachmittags gibt es gemeinsame Angebote.
Es wird zunehmend betont, dass sich Ihr Angebot auch an Väter richtet…
Ja, der Anteil ist jedoch klein. Im Jahr berate ich zwischen 300 und 400 Mütter, und vielleicht 10 oder 15 Väter. Voraussetzung für eine Kur ist, dass der Anteil der Carearbeit etwa bei 50 Prozent liegen muss.
Und den größten Anteil der Carearbeit leisten nach wie vor Frauen…
Ja.
Was beinhaltet das?
Frauen kümmern sich um alles, die Planung der Einkäufe, der Arzttermine und so weiter. Das ist wirklich eine vielschichtige Managementaufgabe. Und dann fühlen sie sich ja auch noch zuständig für die Befindlichkeit aller. Das ist auch jetzt zu Corona-Zeiten nicht anders. Vielleicht sind Väter im Home-Office. Aber das heißt nicht, dass sie wirklich präsent sind. Und auch die Kinder können sich so schnell meist nicht umstellen.
Kann man sagen, dass die Anzahl an Belastungsfaktoren zugenommen hat über die Jahre?
Dazugekommen ist, es besonders perfekt machen zu wollen. Besonders gut sein zu müssen.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Nach einem langen Tag nach Hause zu kommen und dann den Anspruch an sich zu haben, noch ein Vier-Gänge-Menü zu kochen zum Beispiel. Ich habe in meinem Büro ein großes Hamsterrad stehen, in dem sich die Frauen vor der Kur befinden. Der Ausstieg daraus und bewusst Pause zu machen, das lässt sich in der Kur lernen. Es geht um Zeitmanagement, aber auch darum, dass Achtsamkeit und Fürsorge für sich selbst und die Kinder nichts mit einem Hamsterradsein zu tun haben, sondern mit Lebensfreude und Leichtigkeit. In der jetzigen Zeit ist das natürlich noch schwieriger, wenn man nicht weiß, ob der Kindergarten morgen noch geöffnet ist oder wieder schließen muss.
Woher kommt dieser generelle perfektionistische Anspruch?
Der Druck der Gesellschaft ist groß. Auch, dass Kinder schon so viel leisten müssen und früh gut sein müssen. Sich zu vergleichen mit anderen. Das wird in einer Kur aufgebrochen. Masken fallen, weil man einander zuhört. Es ist ein Miteinander. Frauen stützen sich untereinander. Zu Nicht-Corona-Zeiten besteht meine Arbeit zu 80 Prozent aus Gruppenarbeit, denn es ist klar: Erschöpfung ist kein rein individuelles Phänomen.
Wieso ist dieses Sehen, dass es Anderen auch so geht, so wichtig?
Weil ich sonst immer denke, dass ich schuld bin, dass es mir so geht. Weil die Situation individualisiert wird und nicht das gesellschaftliche System auch ein Stück dafür verantwortlich ist. Und es ist unheimlich befreiend, Gefühle von Überforderung auch einmal aussprechen zu dürfen. Für Frauen, aber auch und gerade für Männer.
Gibt es perfektionistische Ansprüche auch an eine Kur?
Ja, dass sie unbedingt am Meer sein muss oder dass das Haus unbedingt ein Schwimmbad haben muss. Kur ist Arbeit am eigenen Leben, da sind die äußeren Gegebenheiten und die Umgebung nicht besonders erheblich.
Leisten Sie da Aufklärung?
Ja, auch in Bezug auf die Ziele. Bei drei Wochen reichen ein Hauptziel und bis zu zwei Nebenziele. Ein Hauptziel ist, sich wiederzufinden – in Pause und ohne an die nächste Aufgabe denken zu müssen, zur Ruhe zu kommen. Die eigene Lebenssituation ein Stückchen zu reflektieren und zu fragen: Was überfordert mich? Wo muss ich Nein sagen lernen? Und dass die Beziehung zum Kind wieder intensiver wird, ist natürlich auch schön.
Wie kommen die Frauen von der Kur wieder?
In den Vorgesprächen fließen oft viele Tränen. Die Frauen sitzen etwas zusammengesunken vor mir. Ich bin oft beeindruckt, wenn sie nach einer Kur dann plötzlich sehr aufrecht vor mir sitzen und eher fröhlich sind und in den allermeisten Fällen sehr positiv von der Kur sprechen. Sie haben dann auch wieder Ziele, kleine Ziele. In den Chor zu gehen, etwas Sport zu treiben, eine Stunde am Tag mit dem Kind zu spielen, sich Pausen zu nehmen.
Frau Daum, vielen Dank für das Gespräch!
Der Gottesdienst zum Jubiläum am Sonntag, 25. April 2021 das Jubiläum wird live ab 10 Uhr aus der Hauptkirche St. Jacobi auf NDR-Info und WDR 5 übertragen. Es predigt Bischöfin Kirsten Fehrs. Mit ihr gestalten den Gottesdienst Pastorin Lisa Tsang, Hamburger Kurberater*innen, Elke Büdenbender als Schirmherrin des Müttergenesungswerks, Katrin Schmidt (Ev. Kurzentrum Gode Tied/Büsum), Pastorin Susanne Sengstock und Irene Pabst (Frauenwerk der Nordkirche) sowie Kantor Gerhard Löffler. Das Motto „Ich stehe in der Sonne und fühle, wie mir Flügel wachsen“ ist ein Ausspruch der Gründerin des Müttergenesungswerks, Elly Heuss-Knapp. Im vergangenen Jahr bestand das Werk seit 70 Jahren. Das Jubiläum wurde wegen Corona auf dieses Jahr verschoben.
Wissenswert: Wie beantrage ich eine Kur?
Auch in Pandemie-Zeiten ist die Beantragung einer Kur ganz klar möglich. Die Beratung zur Antragstellung und Auswahl der Kurhäuser, sonst in Präsenz, findet telefonisch oder digital statt. Die passende Beratungsstelle, richtet sich nach dem eigenen Wohnort und ist auf der Seite der Müttergenesung in der evangelischen Kirche in Hamburg zu finden. Wegen der Pandemie sind die Wartezeiten von Bewilligung bis zum Antritt einer Kur länger. Das liegt unter anderem daran, dass im vergangenen Jahr viele Kuren ausfallen mussten und nun nachgeholt werden. Normalerweise gilt die Bewilligung der Krankenkasse sechs Monate. Angesichts der aktuellen Lage jedoch zeigen sich die Krankenkassen oft kulant und verlängern ihre Bewilligungszeiträume auf bis zu 12 Monate.
Spenden:
Bis heute finanziert das Müttergenesungswerk seine Arbeit mit Spenden. Daher wird angesichts des Festgottesdienstes Corona-konform online zu Spenden aufgerufen. Online-Kollekte für die Gesundheit von Müttern: www.frauenwerk-nordkirche.de/muettergenesung/spenden