Baugeschichte des Michel Ein Genie schuf Hamburgs Wahrzeichen

Aber Hamburg wuchs. Ende des 16. Jahrhunderts lebten bereits über 40.000 Menschen in der Stadt. Schon 1647 wurde daher für die Neustadt der Bau einer großen St. Michaelis-Kirche beschlossen. 1661 wurde sie eingeweiht, 1685 wurde sie Hamburgs fünfte Hauptkirche, nach St. Petri, St. Nikolai, St. Katharinen und St. Jacobi. Doch das war noch nicht "der Michel".

 

Zerstört durch Blizeinschlag

Die erste große St. Michaelis-Kirche stand knapp 90 Jahre lang. Am 10. März 1750 wurde sie durch ein Feuer nach einem Blitzeinschlag komplett zerstört. Der Senat beschloss einen Neubau und beauftragte damit Johann Leonhard Prey (~1700-1762) und Ernst Georg Sonnin (1713-1794). Prey war ein Meister, Sonnin aber war ein Genie: Sein erstes Bauwerk war eine Bierbrauerei in Hamburg-Altona, sein zweites wurde der Michel, der zum weltweit bekannten Wahrzeichen der Stadt avancierte.

 

Der Neubau verlief keineswegs reibungslos, es gab viel Streit und Verzug, der an die heutige Elbphilharmonie erinnert. Besonders das Dach der großen Kirche, die säulenlos in Gestalt eines griechischen Kreuzes konstruiert werden sollte, bereitete Probleme. Ab 1753 ruhten die Arbeiten sogar für ganze drei Jahre. Es fehlte Geld, und auswärtige Gutachten wurden bestellt. Doch schließlich konnte das Kirchenschiff noch ohne Turm vor 250 Jahren am 19. Oktober 1762 feierlich eingeweiht werden. Mit-Baumeister Prey war kurz zuvor gestorben.

 

Erfindungen beschleunigten den Bau

Sonnin war eigentlich nur Ingenieur, Tüftler und früher "Daniel Düsentrieb". Er entwickelte Wasser- und Pendeluhren, parabolische Laternen, Winkelmesser sowie Erd- und Himmelskugeln. Anfangs teilten sich die beiden Michel-Baumeister die Aufsicht über ihre Baustelle im Wochenwechsel - was sich als Quelle permanenten Verdrusses erwies. Doch unstrittig ist, dass Sonnin den Fortgang der Arbeiten durch zahlreiche Erfindungen maßgeblich beschleunigte. Für die Verständigung mit den hoch oben arbeitenden Handwerkern erfand er zum Beispiel kurzerhand ein neuartiges Megaphon.

 

Anstatt die Reste des zerstörten Vorgängerbaus Stein für Stein abzutragen, ersann Sonnin bereits 1750 einen ausgeklügelten Hebelmechanismus, der die Mauern auf breiter Front zum Einsturz brachte. Die Gerüste für das Kirchenschiff versah er mit Auffahrrampen für Pferdefuhrwerke - ein zuvor niemals erprobtes Verfahren. Für das Wasser, das man zum Anmischen des Mörtels brauchte, ließ Sonnin mitten im entstehenden Kirchenschiff einen Brunnen bohren - das sparte lange Transportwege.

 

Spektakuläre Krypta

Beim Bau des 132 Meter hohen Michel-Turmes (1762-1786) war Sonnin alleiniger Bauherr - er bewältigte ihn ohne Gerüst. Auch die Anlage der Krypta wird ihm zugeschrieben: Er schuf ein weiträumiges Gruftgewölbe unterhalb der großen Kirche, mit großzügigen Grabanlagen. Im Zweiten Weltkrieg fanden hier die Menschen der Neustadt Zuflucht vor dem Bombenkrieg - heute ist die Stätte nach der jüngsten Sanierung eine der spektakulärsten Gottesdienst- und Veranstaltungsräume Hamburgs. Auch Sonnin fand damals in der Krypta seine letzte Ruhestätte.

 

Der Michel und sein Turm wurden fortan zum Wahrzeichen Hamburgs. Hoch über dem Hafen grüßt er traditionell die Schiffe der Hansestadt bei ihrer Abfahrt und Ankunft. Doch am 3. Juli 1906 passierte wieder ein Unglück: Kupferarbeiten am Turm lösten einen verheerenden Schwelbrand aus. Der Turm stürzte ein und zerstörte auch das Kirchenschiff. Abermals beschlossen Senat und Bürgerschaft unverzüglich den Wiederaufbau, diesmal nach den Original-Plänen Sonnins - und bereits am 19. Oktober 1912 konnte der Michel wieder eröffnet werden.

 

Die Kriegsjahre überstand Norddeutschlands prachtvollste Barock-Kirche weitgehend unbeschädigt - bis auf zwei Bombentreffer 1944 und 1945. 1952 erfolgte die Wiedereinweihung, ebenfalls am 19. Oktober. Doch die Kriegsschäden sowie der "Zahn der Zeit" waren offenbar nur unzureichend beseitigt worden. Ab 1983 begannen neue Sanierungsarbeiten zunächst am Turm und ab 2001 am Kirchenschiff, die erst Ende Oktober 2009 abgeschlossen wurden. Insgesamt wurden in diesen 26 Jahren 33 Millionen Euro investiert.

 

Im Zuge dieser Groß-Sanierung wurde ein umfangreiches Bauarchiv mit über 5.000 Plänen, Bildern und Dokumenten angelegt und digital erfasst. "Mit diesem Archiv wird Wissen gesichert und an künftige Baumeister weitergegeben", sagte Michel-Architekt Joachim Reinig. Ihm sei deutlich geworden, dass einem Architekten ein solches Gebäude "nur auf Zeit anvertraut" sei: "Wir sind Treuhänder der Bauleute vor uns - und Sachwalter aller künftigen Generationen."