Die Historikerin Ulrike Winkler aus Trier geht von einer höheren Dunkelziffer aus. Das sagte sie am Donnerstag bei der Vorstellung ihrer wissenschaftlichen Studie. Bei den Übergriffen habe es sich um Gewalt von Jugendlichen an Jugendlichen, vor allem von Jungen gegenüber kleinen Mädchen, gehandelt.
Der Studie zufolge haben mehrere Faktoren den Missbrauch begünstigt. Dazu gehörten die im Margaretenhort damals üblichen gemischten Zwölfergruppen. Für eine Privatsphäre wären Regeln nötig gewesen, die es nicht gegeben habe, so Winkler. Ihre Gespräche mit betroffenen Frauen und anderen Beteiligten hätten gezeigt, dass es "gefährliche Orte" für die Mädchen gegeben habe. Dazu zählten Badezimmer, Keller, der Spielplatz und tote Winkel der Gänge.
"Fatales Signal" an die Opfer
"Das große Dilemma war, dass den Kindern nicht geglaubt wurde". Das halbherzige, nicht dem Opferschutz verpflichtete Vorgehen der Verantwortlichen sei für die Betroffenen ein "fatales Signal" gewesen. Durch das Schweigen habe bei ihnen eine Schuldverschiebung stattgefunden. "Die Scham ist bei den Opfern geblieben".
Dabei könne sie über die Gründe des Schweigens nur Vermutungen anstellen, sagte Winkler weiter. So sei denkbar, dass die Heimleiterin und die Erzieherinnen den Ruf und nicht zuletzt die Existenz des Margaretenhort schützen wollten. "Da es sich um eine Einrichtung in kirchlicher Trägerschaft handelte, könnte die Sorge um den Prestigeverlust noch einmal besonders ausgeprägt gewesen sein."
2016 machte die evangelische Kirchein Hamburg den Verdacht öffentlich
Im Oktober 2016 hatte der Kirchenkreis Hamburg-Ost den Verdacht vom sexuellen Missbrauch öffentlich gemacht. Für viele sei es das erste Mal gewesen, so die zuständige Pröpstin Ulrike Murmann, dass man ihnen glaubt. Für die Studie wurden ehemalige Bewohner und Mitarbeitende über die damalige Situation befragt. Die Akten mit den Listen der Bewohner wurden nach den gesetzlichen Vorgaben bereits vernichtet. Etwa 60 bis 75 Kinder und Jugendliche haben in den 1980er Jahren im Margaretenhort gelebt.
Für die Mitarbeitenden habe es seit Herbst 2016 zahlreiche Schulungen geben, um übergriffiges Verhalten zu unterbinden, sagte Geschäftsführer Rainer Rißmann. Es gehe um eine neue Kultur der Offenheit, in der frei über das gesprochen werden dürfe, was man sieht. Dies sei jedoch ein langwieriger Prozess.
Geschichte des Margaretenhorts
Der Margaretenhort an der Harburger St. Petrus-Kirche (Heimfeld) wurde 1907 gegründet und war in den 1980er Jahren ein Heim für Kinder und Jugendliche. Dabei handelte es sich überwiegend um Waisenkinder und Kinder aus zerrütteten Familien. Außerdem lebten hier Kinder aus Flussschiffer-Familien.Die zentrale Einrichtung wurde Mitte der 1980er Jahre schrittweise aufgelöst. Heute leben die rund 80 betreuten Kinder und Jugendlichen in Einzelwohnungen in Harburg und Umgebung. Träger war seinerzeit der Kirchenkreis Harburg. Heute ist der Kirchenkreis Hamburg-Ost Mehrheitsgesellschafter.
Dr. Ulrike Winkler: „Kein sicherer Ort“
Verlag für Regionalgeschichte
ISBN 978-3-7395-1285-3