Gastbeitrag von Tom Diesbrock Buen Camino - Der gute Weg: wunderschön, anstrengend und überraschend

Ja, unglaublich schön waren die endlosen Kornfelder der Meseta, die mittelalterlichen Dörfer, Kirchen und Kathedralen, die Wälder von uralten Kastanien und Berge mit mannshohen Ginster bewachsen. Aber die Berge bis über 1.500 Meter wollten eben auch bestiegen werden. - Haben Sie schon erlebt, dass der Weg nach unten viel anstrengender ist als der Aufstieg?

 

Geduldsprobe an Autostraßen

Die Sonne über den schattenlosen Weiten versengte mir die Haut. An Regentagen klebte der Lehm schwer an den Schuhen, und das Gehen auf viel befahrenen Autostraßen kann die Geduld schon sehr auf die Probe stellen.

 

Der Jakobsweg – oder Camino de Santiago - ist wunderschön, oft anstrengend, bringt den Wanderer manchmal an seine Grenzen, ist dabei aufregend, selten öde und immer wieder überraschend.

 

Also: Erwarten Sie keine einfachen Antworten, wenn Sie einen Pilger nach seinen Erfahrungen und Motiven fragen!

 

Geselligkeit und persönliche Gespräche

Der Camino, das sind tausend kleine und große Geschichten. Viele davon erzählen von Begegnungen mit anderen Pilgern. Selbst wenn die meisten Menschen am Tag gern allein wandern, finden sie in der Pilgerherberge, Geselligkeit und viele persönliche Gespräche. Es geht meistens nicht um alltägliche Dinge, Politik, den Beruf oder die üblichen Widrigkeiten. Das ist auf dem Camino weit weg. Im Mittelpunkt stehen persönliche Fragen: Was hat uns hergebracht? Was versprehen wir uns von davon? Was lernen wir hier gerade, und was wollen wir daraus machen? Dabei ist das Pilgern keine bierernste Angelegenheit – es darf auch gefeiert und gelacht werden, und das Glas Bier oder Wein gehört zu jedem Pilgermenü dazu.

 

Schon in vorchristlicher Zeit gingen Menschen diesen Weg durch ganz Europa über die Pyrenäen zum Kap Finisterre am atlantischen Ozean, wo die damalige Welt ihr Ende hatte. Im 9. Jahrhundert wurde die Reliquie des Apostels Jakobus in Santiago aufgefunden – das sagt jedenfalls die äußerst fantasievoll ausgeschmückte Legende um den Jünger Jesu.

 

Pilgerfriedhöfe am Weg

Millionen von Menschen pilgerten seitdem an sein Grab, um von der Kirche den Sündenerlass zu erhalten, Buße für ein Vergehen zu tun oder ein persönliches Gelübde zu erfüllen. Die oft mehrjährige Pilgerreise bedeutete Strapazen und Gefahren, die sich der mit Goretex und Krankenversicherung ausgerüstete moderne Pilger kaum noch vorstellen kann. Dass viele Pilger ihre Reise mit dem Leben bezahlten, zeigen heute noch zahlreiche mittelalterliche Pilgerfriedhöfe am Weg.

 

Aber was treibt die Menschen heute an, Wochen oder Monate zu Fuß oder auf dem Rad den alten Pfaden zu folgen? Jemand fragte mich vor meiner Abreise entgeistert, warum ich denn nicht das Auto oder den Bus nehmen würde.

 

Heute Pilger zu sein scheint nicht in die Zeit zu passen. Oder haben wir es besonders nötig? Die steigenden Pilgerzahlen scheinen das zu belegen. Im letzten Jahr erreichten nach Angaben des lokalen Pilgerbüros fast 150.000 Menschen Santiago de Compostela, viele Zehntausend mehr waren auf dem Camino unterwegs. 2010 – wir haben ein “Heiliges Jahr” – könnten es doppelt so viele werden.

 

 

“Das unruhige Herz ist die Wurzel der Pilgerschaft.

Im Menschen lebt eine Sehnsucht,

die in hinaustreibt aus dem Einerlei des Alltags

und aus der Enge seiner gewohnten Umgebung.“

 

Dies schrieb der heilige Augustinus im Jahre 430, und es gilt noch genauso für den modernen Pilger. Raus aus dem Alltag, dem Job, den alltäglichen Fragen und den immer gleichen Antworten – den Blick weiten und herausfinden, was denn wirklich wichtig ist und dem eigenen Leben Sinn und Inhalt gibt.

 

Motive der Pilgerschaft

Als Psychologe interessierte mich besonders, warum Menschen heute zu Pilgern werden. Ich hörte von ganz unterschiedlichen Motiven, und doch hatten sie oft einen gemeinsamen Kern: Viele Menschen befanden sich an einem Wendepunkt in ihrem Leben, als sie sich für den Jakobsweg entschieden. Sie haben Verluste erlebt, durchlaufen gerade wichtige Veränderungen oder suchen noch ihren Weg aus einer privaten oder beruflichen Sackgasse.

 

Der Jakobsweg bietet Zeit im Überfluss, um nachzudenken und heraus zu finden, wie das Leben weiter gehen soll. Dafür ist es gut, die Erde unter den Füßen und Sonne, Wind und Regen im Gesicht zu spüren. Das gute Gefühl, unterwegs zu sein, zurück zu blicken und jeden Meter aus eigener Kraft gegangen zu sein.

 

Unter Pilgern wünscht man sich „Buen Camino“, einen „guten Weg“ – und das scheint mir das Wichtigste zu sein: Den eigenen Weg GUT zu gehen. Und das heißt nicht besonders schnell oder besser als die anderen sondern eben so, dass es mir gut tut und zu mir passt. Wer das nicht tut, zahlt dafür einen Preis, der oft aus Erschöpfung, Blasen, Muskelschmerzen oder Gelenkproblemen besteht. Fast wie im richtigen Leben, oder?

 

Gute Vorbereitung gehört dazu

Noch ein Wort zu den körperlichen Belastungen: Jeder, der den Camino gehen möchte, sollte sich sehr gut vorbereiten. Gut eingelaufene Wanderschuhe sind der beste Freund des Pilgers! Wenn man das Wandern vorher trainiert hat und auf die Warnmeldungen des eigenen Körpers hört, kann jeder Mensch den Camino gehen. Ich habe Menschen jeden Alters getroffen und sogar von über Achzigjährigen gehört, die zu Fuß unterwegs waren.

 

Um den Camino genießen zu können bedarf es einer Portion Gelassenheit und der Offenheit, sich auf ungewohnte Situationen einzulassen. Schlafsäle mit Etagenbetten und einer Handvoll Duschen und wenig Privatsphäre klingen vielleicht abschreckend. Das Gewicht des Rucksacks lässt einen auch schnell auf vertraute Mittel der Schönheitspflege und anderen Luxus verzichten.

 

Eine wichtige Erkenntnis des Pilgerns ist: Wir stecken unsere Grenzen selbst und können sie eben auch ändern, wenn wir wollen. Dadurch öffnen sich viele Türen und vor allem: Es macht Spaß!

 

mk (www.kirche-hamburg.de)

 

Der Autor Tom Diesbrock war bereits vier Mal auf dem Camino und seinen Nebenrouten in Spanien unterwegs. Der Hamburger ist Coach und Psychologe.