Reformationstag Brauchen wir einen neuen Luther, Frau Aus der Au?

Die Schweizer Philosophin und Theologin Christina Aus der Au

Was bedeutet die Reformation für uns heute? Ein Gespräch mit Christina Aus der Au. Die Theologin, Philosophin und Präsidentin des Deutschen Evangelischen Kirchentages ist morgen zu Gast in Hamburg

Was bedeutet Reformation heute?
Reformation heißt für mich zuerst Aufbruch. Zu reflektieren, was ist. Dann merkt man möglicherweise: Kirche spricht mich nicht an. Oder: Wie vom Glauben geredet wird erreicht mein Herz nicht. Luther hat das für seine Zeit so empfunden. Und heute kann das auch so sein. Die Kirche und der Alltag der Menschen sind vielerorts nicht miteinander verbunden. Deshalb müssen wir auch heute aufbrechen und fragen: Wie ist Kirche lebendige Gemeinschaft von Menschen, wie wird Gottes Zuwendung zum Menschen spürbar?

Aber die Kirche war doch sehr präsent im Mittelalter. Die Menschen standen unter Druck, sie wollten sich freikaufen von ihren Sünden. Dagegen wandte sich Luther mit seinen Thesen.
Der Ablasshandel war ein bösartiges Geschäft. Die Kirche versuchte die Menschen und ihren Geldbeutel über ihre Ängste vor dem Fegefeuer zu erreichen. Das passte nicht zu dem Gott, von dem Luther in der Bibel las, zum Beispiel im Römerbrief. Der hatte was mit dem Leben vor dem Tod zu tun und nicht nur mit dem Leben danach.

Sie kommen aus der Schweiz. Dort wurde die protestantische Kirche von den Reformatoren Huldrych Zwingli und Johannes Calvin geprägt. Wie zeigt sich Luther aus der Distanz?
Luther war ein bodenständiger, sinnlicher Mensch, der für seine Überzeugungen einstand. Der Tourismusverband der Schweiz beneidet Deutschland um ihn (lacht). Wir haben nicht eine Figur, die wir so nach vorne stellen können – wie es in Deutschland für das Reformationsjubiläum 2017 möglich ist. Aber zur reformatorischen Bewegung gehören sie natürlich alle drei und noch einige andere.

Was bedeutet Ihnen Luther?
Ich habe theologisch einiges von ihm gelernt. Luther sprach zum Beispiel von der „Hure Vernunft“. Er misstraute dem Intellektualismus. Ich traue der Vernunft viel zu. Aber letztlich ist es eine Entscheidung, die jeder Mensch trifft – für eine Weltsicht mit oder ohne Gott. Man kann Gott nicht denken, er sprengt unser Vorstellungsvermögen.

Was ist Ihnen noch wichtig?
Luthers Definition von Sünde. Danach ist ein Sünder ein ,in sich selbst verkrümmter Mensch’. Wer in sich verkrümmt ist, sieht nur sich selbst – ob es um Macht, Geld oder Liebe geht. Sünde bedeutet also eine auf sich bezogene Existenz. Durch Gottes Liebe können wir uns davon befreien und uns für andere öffnen.

Sie sprechen am Freitag über das Thema ,Wer reformiert hier wen?’ Um was geht es Ihnen genau?
In der Schweiz, aber auch in Deutschland, sind die Kirchen in einem Reformprozess. Stichworte sind der Mitgliederschwund und die Säkularisierung. Ich frage: Reformiert die Gesellschaft die Kirche oder umgekehrt? Was bestimmt unsere Reform – der Spardruck oder das Hören auf Gottes Wort?

Braucht die Kirche einen neuen Luther?
Nein, sie hat viele Menschen, die in Deutschland und weltweit auf mutige und fruchtbare Art Kirche sind. Es sind nicht nur die großartigen Einzelnen, die Kirche weiterbringen, sondern auch die Vielen, die im Kleinen daran arbeiten.

„Du siehst mich“ lautet die Losung für den Kirchentag 2017. In dem Jahr feiert die evangelische Kirche zugleich den Reformationssommer. Was verbindet die Losung mit dem Jubiläum?
,Du siehst mich’: Das heißt, Gott sieht mich als Individuum. Davon spricht der Bibeltext, aus dem dieser Satz stammt. Die Reformatoren zogen aus ihrer damals neuen Erkenntnis die Lehre, dass jeder Einzelne die Kraft hat, etwas zu verändern. Sie trauten sich, sich gegen die herrschende kirchliche Doktrin zu stellen.

Die Losung bedeutet aber auch: Wir als Menschen sehen einander.
So ist es. Gerade die Schweizer Reformatoren haben Kirche auch politisch verstanden. Wir sehen, was die Menschen brauchen und was wir geben können. Ich denke dabei an die Flüchtlinge, aber auch an pflegebedürftige Menschen oder Menschen, die Hunger leiden.

Die Philosophin und Theologin Christina Aus der Au ist Präsidentin des 36. Deutschen Kirchentags 2017 in Berlin und Wittenberg. Sie lehrt als Privatdozentin an der Universität Basel. Zudem ist sie theologische Geschäftsführerin am Zentrum für Kirchenentwicklung an der Universität Zürich.

Wer reformiert hier wen? Vortrag von Christina Aus der Au beim Jahresempfang des Kirchenkreises Hamburg-West/Südholstein
Zeit: Freitag, 30. Oktober, 18 Uhr
Ort: Christuskirche Pinneberg, Bahnhofstraße 2