Gastbeitrag zum Gebetskongreß Beten macht offen - für Veränderung und für den aufrechten Gang

„Beten, das ist verstaubt und heute nicht mehr angesagt“- ein Vorurteil, das immer wieder begegnet, weil viele offenbar den Zugang zum Beten verloren haben. Aber was erleben Menschen, die vom Beten nicht lassen können? Zumindest ist das Gebet nicht mit „Nachbeten“ gleichzusetzen. Beten ist ein sich Ausstrecken auf das, was über die Enge des eigenen Ich und des Wir hinaus geht. Das Gebet ist Zeichen, sich nicht in Selbstbescheidung zu üben und sich mit dem Vorfindbaren nicht zufrieden zu geben.

 

Beten macht bewusst, wo man sich verändern sollte

Beten – gleich ob allein oder in Gemeinschaft – hat zwei Dimensionen. Zum einen: Beten gibt dem Menschen Halt, Trost und Mut. Es öffnet den Menschen hin auf das, was über ihn/sie hinaus geht. Es ist Eingeständnis von der eigenen Begrenztheit. Es erlaubt das Eingestehen eigenen Versagens und eigener Fehler. Es bietet einen geschützten Raum, sich selber in der Perspektive anderer zu sehen, nicht gleich angstvoll sich zu verteidigen, sondern sich bewusst zu werden, wo man sich selber verändern sollte, wo man auf andere zugehen könnte und nicht nur die Wahrung des Eigenen in den Mittelpunkt zu stellen. Das Gebet entlastet die Seele, es wirkt auch psychisch erleichternd und kann mit dazu beitragen, aus Verkrümmungen heraus zum aufrechten Gang zu gelangen und Verknotungen in der eigenen Person zu entwirren.

 

Zum anderen: Das Gebet zeigt, dass ich nicht alleine bin. Es zeigt meine Bezogenheit auf Gott und die Welt. Es richtet sich, wie in einem Dreieck, zugleich auf Gott und die Mitmenschen. Es ist nicht Ersatz für ein aktives Agieren in der Gesellschaft – angefangen von der Familie bis hin zu politischem Engagement – sondern hat die Mitmenschen, die Nächsten, die Nachbarn im Blick. Das Gebet überfordert nicht und bietet doch gleichzeitig den Raum, alles zu fordern: Kampf gegen Unrecht und Unterdrückung, Einstehen für die „Fremden“, für eine lebenswerte Umwelt. Im Gebet kann das „Unverschämte“ gedacht und gewagt werden, sozusagen als Einübungsfeld für kleine und immer größere Schritte von Veränderung (von Umkehr, wie es religiös heißen könnte).

 

Beten öffnet

Für die einzelne Person wie für Gemeinschaften ist das Gebet nicht Staub, der abzuschütteln ist, oder wie eine Soße, die über alles gegossen wird, sondern: Beten ist ein Feld für Öffnung, Mut und Trost. Es ist der Rückhalt für eine Ethik und eine Lebenshaltung, die sich nicht auf die eigenen Möglichkeiten zurückkrümmt. Das Gebet verengt sich nicht auf das Eigene und die Eigentümlichkeit durch Grenzziehung gegen andere. Das Gebet beinhaltet das Eingeständnis, dass mein Ich auf ein Du angewiesen ist. Auf das Du in der Transzendenz und auf das Du im menschlichen Bereich, so wie es Martin Buber oder Emmanuel Lévinas gesagt haben. Und dieses Du bezieht alle Menschen mit ein, nicht nur Menschen meiner Sprache, Kultur oder Religion. Insofern ist das Gebet Ausdruck einer Gemeinsamkeit und einer Gemeinschaft aller Menschen, es ist ein tief verwurzeltes Band interkultureller und interreligiöser Verantwortung und Geborgenheit.

 

Prof. Wolfram Weiße ist Leiter des Interdisziplinären Zentrums Weltreligionen im Dialog an der Universität Hamburg