Interview über den Reformationstag Beginn der Freiheit eines Christenmenschen



Frage: Am 31. Oktober gedenken die evangelischen Christen der Reformation durch Martin Luther im Jahre 1517. Was bedeutet die Reformation eigentlich für den christlichen Glauben?


Propst Karl-Heinrich Melzer: Ist Gott rachsüchtig oder ist er ein gnädiger Gott? Diese Frage, die damals viele Menschen beschäftigte, hat Martin Luther für sich beantwortet: Gott ist zunächst ein liebender, gnädiger Gott. Da er diese Erkenntnis seiner biblischen Studien mit anderen Menschen teilen wollte, hat er seine Entdeckung öffentlich gemacht. Was es so gefährlich machte, war die Tatsache, dass eine Bibelübersetzung ins Deutsche mit der damals herrschenden kirchlichen Ansicht nicht übereinstimmte – zumal Luther auch noch dazu aufforderte, sich durch Lesen der Bibel selbst ein Bild zu machen. Das empfanden viele als ungeheuerlich.


Was verdanken wir noch der Reformation?


Melzer: Nur drei Stichworte:

1. Unser evangelisches Kirchenbild: Danach ist die Kirche ist eine gute, hilfreiche Einrichtung. Aber das eigentliche Geschenk geschieht in unmittelbarer Zuwendung zu den Glaubenden – Gott ist ein gnädiger Gott.

2. Den lutherschen Glaubensbegriff: Glauben und Zweifel schließen sich nicht aus. Auch der Zweifel gehört in die Kirche. Wer zweifelt, ist darum kein schlechter Christ.

3. Wer Menschen auffordert, die Bibel zu lesen, setzt voraus, dass sie lesen können – die Reformation ist immer auch eine Bildungsbewegung gewesen.


Spielt die Idee der Erbsünde noch eine Rolle?

 

Melzer: Die Begrifflichkeit mag zunächst antiquiert klingen, die Sache aber ist durchaus aktuell. Gegenfrage: Können Sie sich vorstellen, dass es Menschen gibt, die in jedem Moment ihres Denkens und Handelns mit den 10 Geboten übereinstimmen? Wenn Sie diese Frage mit “Nein” beantworten (was wahrscheinlich ist), müssen Sie auch sagen können, warum das so ist. Ist jeder Mensch also schlecht? Eben nicht. Aber jeder Mensch lebt in einer Gottestrennung, quasi in einer Zeit nach dem Paradies. Diese Trennung, die jedem Mensch eigen ist, wird auch als Erbsünde bezeichnet. Dass Gott sich den Menschen – so wie sie sind – wieder zuwendet, war das Befreiende für Luther, die Entdeckung des gnädigen Gottes.


Luther prangerte den Ablasshandel an, also die Idee sich von Sünden freizukaufen. Wo stehen Sünde und Schuld heute?


Melzer: Nun, heute verkauft keiner mehr Ablassbriefe wie zu Luthers Zeit. Trotzdem wird gelegentlich noch von Ablasshandel gesprochen – zumeist dann, wenn wir statt eine wirkliche Veränderung zu vollziehen, uns mit Geld freikaufen. Das kann individuell betrachtet der Euro an den Bettler auf der Straße sein (muss nicht!). Man vermeidet, sich mit Unrecht in der Verteilung von Gütern auseinanderzusetzen. Das kann aber auch global betrachtet werden: Westliche Staaten setzen Geld ein, um Schlimmstes in Ländern der sog. Dritten Welt zu verhindern.


Aber: Es ist schon grotesk, wenn wir diese Länder auf der südlichen Erdhalbkugel veranlassen, für uns billige Futtermittel anzubauen, um damit unsere Masttiere zu füttern. Und hinterher überschwemmen wir mit EU-subventionierten Hähnchen die einheimischen Märkte dort.


Neue Strömungen in der ev. Theologie lehnen das überkommene Verständnis ab, dass Gott seinen Sohn Jesus durch den Tod am Kreuz geopfert hat, also die Idee vom Sühneopfer für die Sünden der Menschen. Eine weitere Befreiung?


Melzer: Die biblischen Zeugnisse von der Deutung des Todes Jesus sind ja in sich schon vielfältig – die Vorstellung vom Opfertod, ist eine Möglichkeit der Deutung – wenn auch eine sehr prominente. Es gibt aber auch Deutungen, die weniger im Zusammenhang mit dem Begriff Sühne stehen, sondern Jesu Tod als letztes Opfer überhaupt sehen. Nie wieder soll jemand als Opfer sterben.


Es gibt aber auch andere Deutungen. Ein Beispiel: Der Evangelist Johannes deutet den Kreuzestod zuerst als Rückkehr zum Vater – das eigentliche Opfer ist es gewesen, dass der Christus Mensch geworden ist, um uns Menschen nahe zu sein.


Sie sehen, schon die Bibel gibt die Freiheit, unterschiedliche Deutungen einzunehmen, diese Freiheit ist damit jedem Christen zugestanden. Also ist der Gläubige davon befreit, nur eine Deutung für wahr halten zu müssen.



Dr. Karl-Heinrich Melzer ist Propst im Kirchenkreis Hamburg-West/Südholstein.

 

*Die Illustrationen von Monika Horstmann stammen aus dem Mini-Buch: "Wie Martin Luther auf den Reformationstag kam", Autor: Michael Stahl. Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers, des Amtes für Öffentlichkeitsarbeit der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche (AfÖ), 27 Seiten, 1,50 Euro, ISBN - 978-3-87503-125-6