Interview zu Rassismus-Bewusstsein „Eine Abwehrhaltung ist Teil des Lernprozesses“


Rassismuserfahrungen sind für viele Menschen in Deutschland Alltag. Um diesem Problem aus der Mehrheitsgesellschaft heraus zu begegnen, muss man den eigenen Blick schärfen und ein Bewusstsein für Rassismus entwickeln. Ein erster Baustein in diesem Lernprozess ist das kritische Hinterfragen des eigenen Denkens und Handelns. Milena Hartmann und Pia Kohbrok vom Jugendpfarramt der Nordkirche engagieren sich schon lange in der Bildungsarbeit zu diesem Thema.

Am 1. und 10 September bieten sie ein Webinar an, für Menschen, die in der Kirche, ihrem Umfeld oder Einrichtungen mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Was ist Rassismus, wo beginnt er? Und wie kann man ihm begegnen? Um diese Fragen soll es im ersten Teil des Webinars gehen. Im zweiten Teil lernen die Teilnehmenden Möglichkeiten kennen, die Inhalte in ihre Arbeit mit Kindern und Jugendlichen einzubinden.

Warum ist es wichtig, gerade Jugendliche zu sensibilisieren?
Pia Kohbrok:
Es ist erstmal wichtig, die Menschen, die mit Jugendlichen arbeiten, zu sensibilisieren. Kinder und Jugendliche haben ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsbewusstsein, sie wollen nicht verletzen. Aber auch Kinder und Jugendliche wachsen mit Rassismus auf, sei es über Kinderbücher, Werbung, Alltagssprache. Sie reproduzieren diese Verletzungen und diese Diskriminierungen indirekt, ohne es zu bemerken. Und je früher man in den Prozess einsteigt, desto leichter lässt sich Rassismus langfristig bearbeiten.
Milena Hartmann:  Es geht immer auch um die Beschäftigung mit weißen Privilegien. Mit der Erkenntnis, dass man als Jugendlicher verantwortlich damit umgehen kann, und Privilegien nutzen kann, um die Gesellschaft besser zu machen.
Kohbrok: Wir wollen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass man sich als weiße Person nicht immer korrekt verhält und dass man zuhören muss und Kritik auch annehmen kann.

 

Am Selbstbild rütteln

Es ist viel darüber zu lesen, dass es in Deutschland keine Sprache, keinen echten Diskus zu Rassismus gibt, weil weiße Menschen sich angegriffen fühlen oder Rassismus sogar herunterspielen. Wie kann sich diese Kommunikationskultur ändern?
Kohbrok:
Weiße Menschen müssen anerkennen, dass sie Fehler machen. Es ist total schwierig, sich Privilegien einzugestehen. Es verletzt, weil es das Selbstbild in Frage stellt.

Wie ist Ihre Erfahrung, sind die Diskussionen offen in geschützten Räumen oder dauert es, bis weiße Menschen sich eingestehen, dass auch sie rassistisch sind?
Hartmann:
Ganz unterschiedlich. Es kann helfen, Vorurteile zunächst einmal als „menschliches“ Problem zu erkennen, weil wir alle mit ihnen aufwachsen. Diese Erkenntnis kann Abwehrhaltungen abbauen. Wichtig ist der zweite Schritt: dass wir unsere Vorurteile immer wieder hinterfragen.
Kohbrok: Der Ansatz, dass Rassismus im eigenen Alltagsleben beginnt, kommt für viele weiße Menschen überraschend. Es taucht dann oft eine Abwehrhaltung auf. Aber dann weiß ich, dass ich die Menschen emotional erreicht habe. Und an dieser Stelle kann man weiterarbeiten. Ein solcher Workshop ist nur ein kleiner Baustein im Prozess, rassismuskritisch zu denken und zu handeln. Die Abwehrhaltung ist Teil des Lernprozesses.

Rassismus-Bewusstsein lässt sich üben sozusagen…
Kohbrok:
Ja, nicht wie eine mathematische Formel, aber auf der empathischen Ebene.
Hartmann: Und übrigens fängt es auch bei der eigenen Familie und dem Freundeskreis an. Und da funktioniert wie generell in der Bildungsarbeit ganz viel über Fragen, zum Beispiel ‚Wie hast du das jetzt gemeint, dass alle Schwarzen Menschen oder People of Colour (PoC) so sind? Mit wem hast du das erlebt? Hast du es sonst auch erlebt? Über wen genau sprichst du eigentlich?’. Oft merken die angesprochenen Personen dann, dass sie etwas verallgemeinert oder rassistische Aussagen getroffen haben.

 

Fehlt das richtige Vokabular?

Weiße Menschen sind oft sehr zurückhaltend, was sprachliche Ausdrücke rund um das Thema Rassismus anbelangt. Können Sie das bestätigen
Kohbrok:
 Es gibt viel Unsicherheit. Nicht nur in Workshops, erlebe ich, dass weiße Menschen darüber sprechen wollen und plötzlich gehemmt sind und gar nicht weiterkommen. Aber wir haben die Worte. Es gibt Schwarze Menschen und PoC, die Begriffe nahelegen und andere ablehnen, diese Stimmen werden zu wenig gehört. Rahmen und Richtlinien sind zu wenig bekannt und werden oft von weißen Menschen abgelehnt.

Zwei weiße Frauen, die einen Workshop zu Rassismus gegenüber Schwarzen Menschen und PoC geben: Wirkt das nicht etwas eindimensional?
Kohbrok:
Ja und das ist auf jeden Fall, kritisch zu hinterfragen. Wir haben auch im Zuge der Konzeption darüber gesprochen. Für uns ist es so ok, weil wir anderen weißen Menschen den Anstoß geben möchten, sich mit Rassismus zu befassen. Das entbindet aber nicht davon, dass der Prozess weitergeht und Schwarze Menschen sowie PoC Gehör finden müssen, weil sie die ExpertInnen sind.
Hartmann: Und gleichzeitig auch da die kritische Rückfrage: Warum haben wir so wenig Schwarze Menschen und PoC in kirchlichen Zusammenhängen?

Haben Sie das Gefühl, da ist etwas in Bewegung?
Kohbrok:
Es gibt die Stellen, wo Rassismus laufend behandelt wird. Es sind einzelne Menschen, natürlich auch Arbeitsbereiche. Aber – und das ist jetzt ein subjektiver Eindruck – es bekommt generell wenig Raum.
Hartmann: Wir als Kirche sollten daran arbeiten, dass es ein Thema wird, das in allen Arbeitsbereichen reflektiert wird.
Kohbrok: Rassismus ist ein Querschnittsthema. Ihm entgegenzuwirken, gehört als Aufgabe viel mehr in die Mitte.


Das Webinar ist Teil der Bildungsarbeit von Milena Hartmann und Pia Kohbrok. Sie bieten auch auf Anfrage Workshops zum Thema Rassismus in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen an und stehen für alle Fragen rund ums Thema zur Verfügung. Email: milena.hartmann@jupfa.nordkirche.de und pia.kohbrok@jupfa.nordkirche.de

Zum Webinar: MultiplikatorInnenausbildung: Alltagsrassismus und Rassismus-Bewusstsein in der Arbeit mit Kindern- und Jugendlichen der Nordkirche.
Webinar Teil 1: 1. September von 10 bis 12 Uhr und Teil 2 am 10. September von 10 bis 12 Uhr (Voraussetzung: Teilnahme am ersten Termin!)
Die Teilnahme ist kostenlos. Anmeldung bis zum 28. August an Anke.Vonsien@jupfa.nordkirche.de
Für die Teilnahme über Zoom wird ein internetfähiges Endgerät mit Kamera und Mikrofon benötigt.